Studio 89

Das Original

"Das ist das einzige Radioprogramm mit Garantie. Es gibt keine heißere Show! Wenn es eine gäbe, würden wir unsere einstellen"(B.Graves)
Elvis

Rebell wider Willen

08.01.1935 - 16.08.1977
Am 8.Januar jährte sich zum fünfzigsten Mal der Geburtstag von Elvis Presley. Die Legende der populären Kultur beschreibt Barry Graves im Berliner "tip" 1/85 „Elvis-Schmelvis "(Harry Nilsson, Los Angeles 1974). „Eigentlich stellte er doch all das dar, wogegen wir rebellieren. Ich wollte nie wie Elvis werden, ich wollte kein fetter, reicher, kranker, neurotischer Rock-Star sein" (Johnny Rotten, London 1977).

„So viel ich weiß, ist der Mann tot, ja ? Ist das richtig? Dann kann ich ihn nicht mehr einschätzen. Er war super, aber da habe ich heute nichts mehr für übrig, da hat mich meine Tochter abgelöst" (Tchibo-Verkäuferin auf der Wilmersdorfer Straße, Berlin1984).

„Kann es wahr sein — Es ist wahr. Elvis hat uns verlassen. — Nur sein Körper —Seine Seele wird immer in uns leben." (Fan-Gedicht im Elvis-Magazin „Graceland", Coburg 1983).

„Wenn er sich so auf der Straße aufführen würde wie im Fernsehen, dann hätte ich ihn auf der Stelle verhaftet" (Polizist, New York 1957).

Den einen war er so schnulzig, den anderen zu rockig, er war zu fett, er hatte eine Schmalztolle, er kaufte sich rosafarbene Cadillacs, seine Filme konnte sich kein vernünftiger Mensch angucken, die meisten seiner LPs waren der reinste Müll, er lebte im Kitsch, er bewunderte Richard Nixon, ihn machten vor allem die älteren Frauen aus den Vororten an, er kam nie auf Tournee nach Europa, er war eine „Heulboje", „menschgewordene Dekadenz", der die „Philosophie des Stumpfsinns" predigte und sich zu „Orgien der Unkultur" hinreißen ließ. Im März 1977, einige Monate vor seinem Tode, veralberte ihn der „stern" als „Fetten aus Dingsda", weil in der Haifischbranche jeder Kalauer, der Umsatz macht, zum Aphorismus geadelt wird. Vielleicht hat die „Literaturnaja Gaseta" im Hamburger llustriertenmüll gewühlt, als sie im Juli 1977 klagte: „Das westliche Showbusiness schneidert ständig neue Trends und brütet neue Stars und Idole aus und wirft mitleidslos alle beiseite, die nicht mehr in Mode sind." „Gebrochen und vergessen" sei der King aus Memphis, ein „Beweis für die Herzlosigkeit des amerikanischen Ausbeutersystems".

Was heißt denn hier „herzlos" ? Haben denn die vielen treuen Fans ihn nicht zu Tode geliebt? War ihnen denn nicht ihre Zuneigung jede nächtliche Ruhestörung wert, jede eingetretene Hoteltür, jede abgerissene Locke, jedes zerfetzte Hemd, jeden schmierigen Kuß, jedes Grapschen zwischen die Beine? „Schau mal", kreischten die beseligten Kult-Hyänen. „Er singt nur für uns. Er macht, was wir wollen. Er ist unser Star. Wir besitzen ihn. Er spielt voll mit, er hat nicht die Allüren, sich uns zu verweigern." Also rein in die Villa, rauf aufs Podium, entert das Flugzeug, kippt das Auto um: „Ich will ihn berühren, ich geb alles drum, wenn ich ihn nur einmal berühren kann. Da hau ich der alten Frau glatt eins in die Fresse, wenn die mir noch mal die Autogramm-Mappe ihrer Tochter vor die Nase hält, da tret ich dem Bullen in die Eier, wenn der nicht endlich den Weg freigibt ...Elvis, Elvis, hier bin ich.

Scheißtyp, komm näher, lauf jetzt nicht weg, verfluchter Hund, ich bin extra aus Spokane, Washington, gekommen, weißt Du, was so ein Flugticket kostet; ach, was keine Wahl, nur die Qual des letzten, leidensschweren Abschieds. Hallelujah, so feiert man seine Helden ins Grab hinein. Da schaut die reife Frau in den Kosmetikspiegel und seufzt:
„Hier hilft auch kein ,0il of Olaz' mehr". Da erblickt der Mittvierziger morgens beim Rasieren einen Mann mit Tränensäcken und angegrauten Schläfen, während der Rundfunk mal wieder eine Elvis-Platte dudelt. Die Frau lässt den Kosmetikspiegel sinken, der Mann legt den Rasierer beiseite, und beide denken an die Nacht, als Rock'n'Roll noch jung war, als niemand etwas zu verlieren hatte, als die Rebellion noch keines ihrer Kinder gefressen hatte. Es gab solche Nächte, als die Luft zu vibrieren schien, als sich ein Feuerschein am Himmel zeigte, als von überall her Stimmen der Versuchung flüsterten. Es waren jene Nächte, als irgendetwas passieren mußte. Da rollte einer auf seiner Vespa ran, da schleppten zwei Backfische einen „Mignon"-Plattenspieler, da trug jemand ein Einkaufsnetz mit Bluna und Kartoffelchips. „Macht bloß nicht so laut, sonst erzählen die Nachbarn hinterher alles meinen Eltern" Der Reiz des Verbotenen, die Stimme aus dem Abseits. Ich höre zu, ich bin baff, ich bin wie hypnotisiert. Das ist jener Moment, in dem man weißt Du schon, vielleicht scheißt Du auf unsere Liebe, wenn Du nur Deine Weiber und Deine Drogen hast.

Elvis! Hierher ...oh, er ist weg, er hat mich nicht mal angeguckt, es war alles umsonst, kein Blick, kein Autogramm, kein zärtlicher Moment, wo er kurz meine Hand in die seine nimmt, nichts, gar nichts, es ist alles aus, ich könnte mich umbringen, ich könnte ihn umbringen" Elvis strauchelte im Unterholz ekstatisch hochgereckter Arme, er stürzte in die Flutwelle heiser-hysterischer Schreie. Im Kesseltreiben der Autogrammjäger, Abknutschgeier und Komplimente-Schleuderer riß ihm der Geduldsfaden, platzte sein Nervenkostüm, blutete seine Persönlichkeit vollkommen aus. Die Fans haben Elvis auf dem Gewissen.

Er ist nicht für uns gestorben, wie für die armen Sünder, er ist unseretwegen zugrunde gegangen, wie ein armer Frontsoldat, der zu Kanonenfutter verheizt wird. Die Fans — nicht die Drogen — waren die Killer. Die ungetreuen Freunde, der Tournee-Streß und die Erschöpfung im Plattenstudio trieben die herannahende Katastrophe lediglich auf die Spitze. Elvis mußte wohl so werden, er hatte sich ganz verliert und hineinschmilzt in einem Schock der Erkenntnis: „Ja, das ist es, was ich all die Jahre empfunden habe. Ich konnte es nicht ausdrücken, nicht erklären, ich hatte keinen Namen dafür, ich konnte mir einen Vers drauf machen.“ Aber auf einmal: „Well since my baby left me..", ich kann es sehen, ich kann es fühlen, ich kann es anfassen; „...I found a new place to dwell ...". Ich sehe es vor mir, ich bin da, wo ich eigentlich unbewußt immer gewesen bin: „...down at the end of lonely Street at Heartbreak Hotel" — die düsterste aller Steitenstraßen des Lebens, die Sackgasse aller Illusionen. Und während die Plastik-Platte von Elvis weiterläuft, sehe ich das Drama dieses Songs vor mir: den Hotelpagen —wie er an einer Säule lehnt und wie seine Schultern von einem unaufhörlichen Schluchzen geschüttelt werden, ich sehe den pickligen Jüngling an der Rezeption, wie er auf einem quietschenden Bürostuhl hinter dem viel zu großen Schreibtisch hervorschaut — schwarzes Hemd, graues Gesicht, dunkle Ringe unter den Augen. Alle Schlüsselfächer sind leer, staubig, mit zerrissenen Spinnweben in den Ecken.

Niemand war da, niemand wird kommen. Es ist der schreckliche, ernüchternde, einzigartige Augenblick der großen amerikanischen Einsamkeit, wo alles Schmerz und Verlorenheit ist, jene wonnige Qual der Ausweglosigkeit einer Teenager-Existenz, die einen rettungslos durchdringt. Das war auch in Essen-Steele nachzuempfinden, das spannte auch in Rottach-Egern den pubertären Körper mit Sehnsucht und Leid. „It's been so lonely, baby, so lonely, baby, Baby so lonely ...I could die" Diese schönen, traurigen, erhabenen Verse.

Der Schauer ist mein ganz geheimer, ganz persönlicher, halbwüchsiger Schauer, der Schmerz ist so, wie nur ich ihn fühlen kann, die Freude ist so total, so rauschhaft allumfassend: Ich bin heute jung, und mir ist das Erwachsenwerden scheißegal. Diese Stimme, die an mein Ohr wispert, die jede Faser meiner Existenz und mich vollständig in Wonne auflöst, diese Stimme der zärtlichen Entsagung und rauhbeinigen Herausforderung knallt mich auf die Hebebühne eines ganz neuen Lebens, treibt mich hoch, gibt mir Kraft, Mut und vor allem ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Heute nacht weiß ich auf einmal, was es heißt, jung zu sein. Und er gehört zu meinem Leben, ist Teil meines Lebens, er ist mein Leben ... Die Presleys waren keine gewöhnliche Familie, sie waren Hillbillies. Entwurzeltere und triebhaftere Typen kann man sich gar nicht vorstellen. Ihre zur Schau getragene Frömmigkeit war nur eine Verkettung von diversen Aberglauben, ihre Lieder waren das typische Bluegrass-Gesinge, dem sich das weiße Lumpenpack so hingab. Elvis, dieser dumme kleine Country-Boy, sang wie ein Nigger. Aber dem Jungen mit dem Gesicht eines jungen George Wallace ging es wie den anderen: Ganz egal, wieviel diese weißen Bengel vom schwarzen Gesang abkupfern, bei ihnen klingt's immer so lilienweiß wie der Ku Klux Klan" (Albert Goldman in seinem Buch „Elvis", 1981).

Welchen Elvis wird die Nachwelt in der Erinnerung behalten?


Barry Graves 1985

Den Rock-Rebellen aus Zufall? Den Prinzen der Showbühne? Den leidenden, lamentierenden, dahinsiechenden Alt-Star? Jeder hat seinen Elvis parat — als Anti-Typ, als Kult-Figur, als Aushängeschild oder als Fußnote der Musikgeschichte. Elvis hat den Rock'n'Roll nicht erfunden. Niemand kann sich rühmen, einen ganzen Musikbereich erfunden zu haben, aber irgendjemand wird zum obersten Repräsentanten einer neuen Szene gekürt — zum King. Elvis war noch nicht einmal der typische Rebell seiner Generation. Er war religiös, patriotisch, hatte Familiensinn und gab sich in der Öffentlichkeit höflich und bescheiden. Das ist den meisten Elvis-Fans, die heute vor der Gedenkstätte Graceland Schlange stehen, gerade recht. Sie mochten ja den Kartoffelbrei-Elvis, die sirupsüßen Balladen, die Liberace-Capes. Wenn Elvis 1976 seinen Manager gefeuert und sich mit Diät und Bodybuilding radikal verjüngt hätte, wenn sein neuestes Album von einem Heavy Metal-Rock-Producer aufgenommen worden wäre, wenn er in seinen Video-Clips die Nuklear-Rüstung attackiert und die bigotten Prediger der sogenannten „moralischen Mehrheit" veralbert hätte, wäre doch den meisten Elvis-Fans das Blut in den Adern gefroren. Aber Elvis wäre dann nicht Elvis gewesen, die Entwicklung zum respektablen Matinee-Idol der kleinen Leute aus den kleinen Städten war schon früh in seinem Charakter angelegt, er schien dazu bestimmt, die uramerikanische Erfolgsstory erneut zu illustrieren: von der Gosse zum Gral, vom Lumpennest Tupelo seiner Geburt zur Luxusvilla Graceland seines Sterbens, ohne Rückschläge, bis der Kelch zur Neige ging. Wenn aber Elvis gegen sein Image und gegen sein Naturell seine Ketten gesprengt hätte, wäre er möglicherweise heute noch am Leben. Doch es gab offenbar kein Zurück mehr, es gab noch nicht einmal die Vision eines Zurück.

„Als ich ein Junge war, habe ich mich als Held von Comic-Büchern und Filmen gesehen — in meinen Träumen habe ich mir das immer ganz genau ausgemalt. Mit diesen Träumen bin ich groß geworden und habe sie dann voll ausleben können. Mehr kann doch ein Mensch nicht verlangen." Elvis, der Superman des Rock, der Conan des Country, der Batman des Blues, eine Comic Strip-Figur in den Geschichtsbüchern der Rock-Musik. Er schien mit dieser Rolle zufrieden zu sein. Ihm genügte es offenbar, Seelentröster der im Leben zu kurz Gekommenen zu sein, der Verzagten, Verzweifelten, Desorientierten — Showsteller für kleinbürgerliche Amüsierbedürfnisse, Pfadfinder mit einem frommen Lied auf den Lippen und Klippschulweisheiten in Reimform. New Wave-Baby unter Neon — hast Du mal an Elvis gedacht? Grüner Parteitags-Delegierter aus Hamburg — könnte „In the Ghetto" auch zu Deiner Sammlung sozial relevanter Pop-Songs gehören? Muß jeder, der Laurie Anderson, Flesh for Lulu und die Filme von John Sayies mag, für Elvis nur ein mitleidsvolles Schulterzucken haben? Wofür Mitleid? Tochter Lisa Marie ist gut versorgt und Ex-Frau Priscilla kriegt als Jenna Wade mehr Fanpost nach „Dallas" geliefert als Sue Ellen und Pam zusammen. Haben nicht eigentlich die Bemitleidenswerten Mitleid verdient? Wie kann man Rock'n'Roll-Fan sein und sich aus der Geschichte seiner Lieblingsmusik davonstehlen? Verkratzte Platten von alten Blues„negern" aus dem Delta zu sammeln, gilt als „exquisit", die Popmusik aus den Hitparaden von Lagos in den Walkman zu schieben, verrät Drittweltbewußtsein — aber Elvis?

Der war doch so reich und hatte überhaupt keinen Geschmack. Die Schnulzen, die der gesungen hat, und die grässlichen Fans, die ihn heute noch wie die Blöden anhimmeln— also in der Gesellschaft möchte ich mich nicht sehen lassen. Laß den Namen „Elvis" fallen, und im „Ax Bax" erstirbt das Tischgespräch. Leg ein Elvis-Buch vor Dich auf die Serviette, und die Kellner im „EinStein" bedienen Dich erst nach langem Zögern. Elvis ist irgendwie nicht „in". Was Mutti mag, kann ein Fan von This Mortal Coil nun wirklich nicht bei lebendigem Leibe über sich ergehen lassen. Dabei war Elvis doch einmal alles, was diese hochgestylten „trendies" niemals sein werden. Er war ein richtiger Proletarier, hat soziale Entwurzelung, Hunger und Arbeitslosigkeit mitgemacht.

Er wußte, wie das war: Sechzig Leute in sechzehn Einzimmer-Wohnungen in seinem Block, keine Küche, ein Bad für drei Familien. Gefährlich verlegte offene Elektrizitätsleitungen, eine altersschwache Kochplatte für warme Mahlzeiten, kaputte Wände, Ungeziefer. 83 Cents die Stunde brachte Vater Vernon als Arbeiter in einer Lackfabrik nach Hause. Elvis war einmal alles, was ein Stadtindianer, ein Leder Punk heute nicht mehr riskieren muß: der streifte in Memphis durch die gefährliche Amüsierzone der Beale Street, der Heimat des Blues, und kaufte, wann immer er ein bißchen Geld zusammen hatte, seine schrillen Klamotten: rosa und schwarz in wahnwitziger Kombination, weiße Schuhe, gelb gestreifte Jacken, viel Glitter, Rüschen, Nieten. Und er trug -sein Haar unverschämt lang, einfach so.

Es gab keinen tieferen Grund dafür. Er stolzierte wie ein Modegockel durch die Gegend und drückte schüchtern seine Gitarre an sich. Damals konnte der kesse Dress noch als Risiko- Aufmachung gelten, da konnte man beinahe noch dafür geteert und gefedert werden. Heute riskiert ja keiner mehr was, seitdem sogar Vico Torriani mit buntgefärbter Irokesen-Haartracht bei Paola und Kurt Felix „Verstehen Sie Spaß?" trällerte und Peter Alexander in Punk-Klamotten „Wir gratulieren" jubilierte. Heute ist nichts so schrill, als daß es nicht übermorgen im „Otto" Katalog sein könnte. Aber damals? „Ich möchte frei sein", dachte vielleicht der Rebell aus Zufall, während er in einem Plattenladen darauf wartete, für seine Mutter eine Geburtstagsplatte aufzunehmen. „Ich möchte singen, ich möchte alles aus mir heraus singen. Ich möchte singen, daß die Welt blaue Wildlederschuhe braucht, daß es nichts macht, wenn das Radio in meinem Auto so laut brüllt, daß dabei die Stoßstangen abfallen. Ich möchte schreien, toben, zusammenbrechen, ich möchte alles aus mir herauskotzen, was mich anekelt. Aber das halte ich wohl nicht durch. Aber es wäre einfach toll: Immer frei sein. Einfach ...völlig ...frei sein"

„Ich halt das nicht mehr aus", mochte der einsame Schuljunge denken. „Ich halt das nicht mehr aus — zu Hause, in der Schule, immer nur der kleine Kacker sein. ,Elvis, tu dies nicht, mach das nicht — das hat Zeit, bis Du erwachsen bist; Verdammt noch mal, wenn Erwachsensein heißt, so leben zu müssen wie meine Eltern, wie unser Kaufmann oder diese Arschlöcher von Lehrern — dann scheiß' ich auf das Erwachsensein." Wie war das denn damals? Brodelte nicht überall in uns ein Elvis hoch? Schrien nicht geschundene Teenager-Seelen nach Erlösung durch einen wilden Typen, der — mit naiver Sinnlichkeit gepanzert — einfach durch die Stacheldrahtzäune der furchtbaren Kleinbürger-Idylle brach? Die jungen Leute zu Beginn der fünfziger Jahre träumten, wußten aber nicht genau, wie sie den Traum benennen, wie sie ihn weiterträumen sollten. Ihr Traum ließ sich nicht im Versandhaus bestellen, sie konnten ihn nicht bei einer Radiostation ins Wunschkonzert drücken, sie bekamen ihn nicht mal bei ihrem Zeitschriftenhändler unterm Ladentisch. Eure Kragenweite führen wir nicht, winkte das Versandhaus ab, die Radiostation dudelte „Jetzt-woll'n-wir-mal-den-Holocaust-vergessen" Schlager vor sich hin, und zum Lesen holte Mutter das „Berteismann Bildungsbuch" mit Goldschnitt aus dem Vertiko.

Elvis trat unbeabsichtigt die Lawine los, er zettelte aus Zufall eine Revolte an, war ein Rebell wider Willen. Seine Konzerte schienen das Ende der Welt anzukündigen, sie endeten stets mit dem gleichen Exzeß: Manche der tobenden Mädchen begannen, sich die Haare auszureißen, andere ließen sich weinend zu Boden fallen oder bissen sich in die Arme und Hände, bis sie bluteten. Die Luft war mit einem seltsam beißenden Gestank durchsetzt. Kaum war Elvis von der Bühne verschwunden, wurde diese von zahlreichen Verehrerinnen gestürmt. Mit ihren Taschentüchern wischten sie das Podium an den Stellen, wo ihr Idol gerade noch gestanden hatte. Und immer war da ein Mädchen, das sich das Mikrophon vom Stativ griff und gegen den Unterleib preßte. Und da glauben die King Kurt-Fans, den Gipfel der Gesellschaftsverweigerung erreicht zu haben, wenn sich sich in Konzerten mit Mehlpampe bewerfen. Es ist natürlich schwer, heute als Rock-Idol aus dem Abseits zu reüssieren. Männer in Nuttenkleidern mit 'ner Schlange um den Hals und einem toten Huhn im Mund? Sag' mal Schätzchen", fragt der BfA- Büroleiter, „hat das nicht der nette Alice Cooper damals in der Lou van Burg- Sendung gemacht, bei der wir Kandidaten für den 'Goldenen Schuß' waren?" „Du hast recht", sagt die Frau und blickt von ihrer Strickmaschine auf. „Seine Kleider wären ja vom Schnitt her nichts für mich, aber daß er uns hinterher das Brathuhn geschenkt hat..." „Was heißt, Sie hätten's noch nie mit Männern probiert, und Ihr Schlagzeug würden Sie lieber spielen, anstatt es ins Publikum zu werfen?" fragt da der entgeisterte Plattenlabelchef. „Dann könne wir den Videoclip für »Formel Eins' ja gleich vergessen" Und dann war da noch Iggy Pop, der sich in zerrissenen Jeans und bloßem Oberkörper mit goldenen Lurexhandschuhen bis zu zehn Minuten an die Bühnenrampe stellte und das Publikum feindselig anstarrte. Wenn seine Band dann endlich mal ihre Trivial-Akkorde anschlug, brüllte und knurrte Iggy Selbstquälerisches („Ich bin der letzte Dreck"), schlug sich dabei mit einer splitternden Flasche auf die Brust, goß heißes Wasser über seine Hosen, taumelte blutend von der Bühne und erbrach sich oft, während er seinen Showstopper heulte: „Ihr kotzt mich an" So what eise is new? Ladies und Gentlemen", sagte am 28.

Januar 1956 der Ansager im US- Fernsehen und erzählte von einem jungen Talent aus dem Süden, der aufkeimenden Hysterie und so weiter. Überall im Land wurden die Fernsehschirme für einen Augenblick dunkel, und als das Bild wieder aufgeblendet wurde, stand Elvis da und blinzelte in die Kamera. Er bewegte seine Schultern, als würde sein Sport-Jackett ihn überall kneifen, er ließ seine weit gespreizten Beine hin und her schlackern, zuckte mit dem Knie, ließ die Beine noch mehr schlingern, stieß seine Hüften, vorwärts, drehte den Unterleib hin und her, hin und her, grinste höhnisch, senkte seine Augen und lächelte gerade mal aus dem linken Mundwinkel. Das war der Untergang des Abendlandes! Wieso erfährt man nichts davon, wenn die Kommunisten CBS aufkaufen? Bringt um Gotteswillen die Kinder in Sicherheit. Ja, es war so, es war ungeheuerlich: Elvis bot sich an, jagte elektrische Schockstöße durch die Braunsche Röhre, führte jugendliche Lust auf der Pirsch vor — von Küste zu Küste.

Von da an galt Elvis als Anführer jugendlicher Freischärler im Guerillakampf gegen den Kolonialismus der Elterngeneration. Marlon Brando und James Dean waren in ihren Filmen („Der Wilde", „...denn sie wissen nicht, was sie tun") so etwas wie die Vorläufer der neuen Bewegung, aber sie schafften es nie, die älteren Leute auch nur annähernd so aufzuregen wie der Teenager-Messias aus Memphis. Elvis war pure Rebellion aus dem Gefühl heraus. Er hatte kein Schauspiel-Seminar besucht, um in perfekt ausgeklügelter Methode jugendliche Ausbruchswut simulieren zu können. Er war, wie er war — und woher das kam, wußte er nicht. Er war nicht wie Brando oder Dean auf der Suche, er trotzte nicht gegen das Establishment. Er war untrainiert, intellektuell unbedarft — einfach das Abbild einer pubertär unausgegorenen Jugendlichkeit, die leidenschaftlich aufbegehrte. Dabei waren seine Songs nach heutigen Standards alles andere als obszön. „Baby, let me be your teddy bear" ist ja wohl Lichtjahre an Schockwirkung vom „Cocksucker Blues" der Rolling Stones und den bisexuellen Straps- und Lederferkeleien von Prince entfernt. Als er damals in Memphis die ersten Akkorde auf seiner Gitarre schlug, lag Veränderung in der Luft. Da sprang ein weißer Junge vom Bürgersteig in die Pfütze, machte einen Überschlag, schnippte mit den Fingern und sagte bloß: „Hep!" Da spülte ein weißes Mädchen die Lockenwickler in der Toilette runter, ließ die Haare fallen und band sie einfach so zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Wie eine von der Sorte", sagte die Mutter bloß. „Na, Gott sei Dank!" dachte das Mädchen. „Ich hatte schon Angst, es könnte ihr gefallen". In Memphis schauten sie über die unsichtbaren Zäune, da horchten sie in verbotene Gassen und radierten die Trennlinien zwischen den Hautfarben aus.

Die weißen Kids labten sich an schwarzer Lebensart (der Kreis schließt sich, heute ist es nicht anders), übernahmen die kesse, mit Milieu-Vokabeln gespickte Bebop-Sprache, imitierten den Müllhalden-Stil der sogenannten „Cat Clothes", der „Klamotten für Raubtiere im Großstadt-Dschungel", die in ihrer Schrillheit von Mustern, Farben und Formen Napalm für die Augen waren, riskierten eine aufreizende Gangart, als schlichen Kiez-Panther auf Abenteuerpfaden, und hörten der Musik der kakaofarbenen Wanderarbeiter aus dem Mississippi-Delta zu. Auch Elvis gab sich in Songs wie Gebaren als Raubtier aus der Dämmerung, der Feuer spie und die nächtlichen Boulevards in Flammen setzte. Das war der heiße Atem der unberechenbaren Night City, der Sound der Straße. Die Straße ist nicht nur Asphalt, Steine, Scherben und Feuerhydranten. Die Straße ist nicht allein spielende Kinder, keifende Weiber, besoffene Penner. Die Straße ist etwas Mythisches, so etwas wie ein Kultbereich. Wenn man den freigeräumt hat, verharrt alles in lauernder Spannung. Einer geht die Straße lang und weiß: die anderen weichen zurück, denn einer nur kann King sein. Aber die anderen warten darauf, es dem King heimzuzahlen. Denn die Straße ist kein Privateigentum auf Ewigkeit. Sie will immer wieder neu erobert und verteidigt werden. Und dieses In-Schach-Halten-Können, dieses Gefühl der eigenen Macht und der Ohnmacht der anderen macht die Sache so lohnend. Wenn einer die Straße beherrscht, schafft er seine eigenen Gesetze. Allerdings: er beherrscht sie ja nicht wirklich, denn eine solche Gang ist nur eine Mafia für Kinder. Kein Erwachsener wird sich etwas vorschreiben lassen. Aber unter seinesgleichen kann man endlich einmal herrschen, kann Maßstäbe setzen und wird nicht mehr gemaßregelt. Die Straße ist das Schlachtfeld der Ohnmächtigen. Elvis, der archetypische Rocker, der mythologische Held der amerikanischen Populärkultur, hat dem Rebellionsdrama der verlorenen Herzen den Soundtrack gegeben, so unwiederholbar perfek: aus der Unschuld der Unvollkommenheit heraus.

Das Cover des ersten Elvis-Albums zeigt das Schwarzweiß-Foto eines dünnen Jungen im weißen Knitterjacket über schwarzem Hemd, der seine Gitarre hochreißt und mit weit aufgerissenem Mund und geschlossenen Augen lustvoll den schmerzlich schönen Blues vom Nie-Erwachsen-werden-Wollen herausschreit. Der Name Elvis lief in riesigen rosa Buchstaben am linken Plattenhüllenrand herunter, während der Nachname Presley in giftgrün quer über den unteren Bildrand gezogen war. Dies war, zwanzig Jahre vor der Zeit, das perfekte Punk-Albumcover. Kein Wunder, daß The Clash 1979 das wegweisende Design der ersten Presley-LP für ihr trendsetzendes Album „London Calling" übernahmen. Zwei Jahre zuvor hatten sie noch erklärt: „1977 ist kein Jahr für Elvis, The Beatles, The Stones und andere gestrige Figuren." Wenn die erste Elvis-LP vom März 1956 heute jemandem in die Hände geraten würde, der keine Ahnung hat, daß Elvis darauf singt, wäre die Hölle los. „Dieser Typ hat alles, kann alles, bringt alles. Der singt so rauh und picklig und verquer, wie man sich doch einfach fühlen muß, wenn das Leben 'ne endlose Warteschleife auf dem Abstellgleis unserer verratenen Illusionen dreht. In seiner Art zu singen, ist alles drin: Angst und Abenteuerlust, Aufsässigkeit gegenüber Autoritäten und Scheu vor der ersten großen Liebe. Der hat alles, der ist perfekt. Ehrlich, perfekt" Keine falsche Note, nichts ist Pose, Anbiederei. Keine Stilisierung, kein Ritual. Offene, freie, direkte, ungeschminkte Musik, mit nichts aufgeputzt. Ein junger Mann allein, ohne den Begleitschutz einer Streichergruppe, ohne Flankendeckung durch einen Chor. Elvis pur. Essenz des Rock'n'Roll. Für die „FAZ" war das „der in seinen Folgen noch unabsehbare Überfall des Vital-Ordinären, Dubios-Ungeistigen, Hermaphroditisch-Klassenlosen auf eine primär intellektuell-akademische, privilegiert-männliche, klassenspezifische Zivilisation", für seine Fans war das schlicht „the sweetest music this side of heaven".

Der australische Sänger Nick Cave versuchte sich vor kurzem an einer 1984er Version von „In the Ghetto"; das Resultat war unsagbar peinlich. Auf seinem Terrain ist Elvis immer noch der King. Einer, der auszog, das Fürchten zu verlernen, der in seinem Gesang zwei unterschiedliche Kulturen vereinigte, der einer Generation im Aufbruch den musikalischen Marschbefehl mehr aus Versehen gab, der nichts dafür konnte, daß diese erste Rebellion aus Unwissenheit über Taktik und Ziele scheiterte, der (neben Frank Sinatra) bedeutendste Populärkünstler des 20. Jahrhunderts wird am 8. Januar 50. Kein Datum zum Erschrecken: Mein Gott, jetzt ist Rock'n'Roll wirklich reif für den Rollstuhl. Elvis lebt, sagen die Fans zu Recht, und die Musikhistoriker sekundieren: „Elvis aeternus" ist längst zur zeitüberdauernden Folklore-Legende geworden. „Ich weiß nicht, warum ich das tue, Mama, ich tu's einfach. Da liegt nichts Böses drin, so wie ich mich auf der Bühne bewege. Ich mache das nicht, weil es obszön ist, ich kann einfach gar nicht anders. Ich kann einfach nicht stillstehen und bloß so dahersingen. Je mehr ich es mache, desto wilder werden sie. Das ist das einzige, was ich weiß."

„Mir war immer so, als sei Elvis gestorben, als ich 'Heartbreak Hotel'aufnahm" (John Cale).„Als er starb, bin ich den ganzen Tag nicht aus dem Haus gegangen, obwohl bei uns in der Nähe ein Erdbeben angesagt war"(Tom Petty).

„Jeder im Rock'n'Roll — und da schließ ich mich ein — war von seiner Persönlichkeit beeinflußt. Ich war stets ein Fan und werde es immer sein " (Bryan Ferry).

„Er war der erste große Held der Rock-Musik, ein großartiger Song-Stilist und Performer, ein guter Interpret von Liedern, und er hatte eine mühelose Bühnenpräsenz" (Peter Gabriel).

„Ohne ihn hätte ich nicht existieren können. Er hat mir erst sowas wie Leben gegeben. Aber ich mach weiter, weil er nicht tot ist. Gott kann nicht sterben" (Teds in London, 1977).

Buch von Barry Graves 1985:  Elvis - King der verlorenen Herzen

Eine Biographie der ungewöhnlichen Art von Barry Graves
"Ich war nie ein Elvis Presley-Fan; ich war ein Bewunderer aus kritischer Distanz" so beginnt Barry Graves sein Kultbuch, das so subjektiv wie möglich und so faktentreu wie nötig aufreißt, was Elvis Presley für die Geschichte der Rockmusik bedeutete, was er auslöste, wie sich einer fühlt, wenn er an Elvis denkt. Der Autor in der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Helden seiner Jugend: da driftet die Beschreibung des Lebensweges ab in Phantasiebereiche. Traum-Trips durch die Lebe-Welt des Kings, das Feuer & Schwefel-Portrait eines amerikanischen Jungen, der sich an der lodernden Verheißung des Traumes verzehrte: vom Hilfsarbeiter zum Weltstar. Elvis, der archetypische Held der amerikanischen Populärkultur - mit allen Kanten, Widersprüchen, in voller Entblößtheit seines exzessiven Showdaseins - und dennoch in der Größe des Talents und seiner schöpferischen Möglichkeiten. Teile dieses Buches wurden vom Autor auch für seine mehrteilige Funkfassung benutzt (RIAS). Elvis starb am späten Abend des 16.08.1977

Elvis - Talfahrt im Cadillac Albino Verlag GmbH 148 Seiten, 31 ganzseitige schwarz-weiß Fotos ausführliche Diskographie und Filmograpie Format 16x24 cm  www.studio89.de 
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