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"Das ist das einzige Radioprogramm mit Garantie. Es gibt keine heißere Show! Wenn es eine gäbe, würden wir unsere einstellen"(B.Graves)
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Titel: Nina Hagen - So erfreulich unberechenbar Ausgabe: DIE ZEIT 42/1989 (13.10.1989)

URL: http://www.zeit.de/1989/42/so-erfreulich-unberechenbar

Den anarchistischen Witz, den rockmusikalischen Biss und die interpretatorische Souveränität ihres ersten Albums von 1978 hatte die als „Punk-Lady" apostrophierte Berlinerin bislang nicht wieder erreicht. Obwohl sie mit machtvoller Stimme und überdimensioniertem Selbstbewusstsein mühelos die Musikszene beherrschen konnte, in Metropolen wie New York oder London zur Kultfigur wurde und in ihrer Heimat selbst kleinbürgerlichen Kreisen fern von Sex and Drugs and Rock 'n' Roll ein Begriff war, schlingerte ihre Karriere dahin.

Zu oft flippte sie freiformal aus, vertändelte ihr Talent mit banalem Spdnti-Material, legte sich musikalische Begleiter zu, die noch nicht einmal abseitiges Format hauen. Doch nun hat sie sich wieder zu längst verloren geglaubter Brillanz aufgerafft. Ihr neues Album bietet kraftvollen, kommerzorientierten, weißen Funk-Rock, der als Hintergrund für andere Sänger möglicherweise banal geklungen hätte. Nina fügt sich in diesen glatten Kontext scheinbar diszipliniert ein, lässt aber ihre stimmlichen Charakteristika, die sie so erfreulich unberechenbar gemacht haben, durchaus hören. So werden Janis Joplins „Move Over", Elvis' „Viva Las Vegas", Herman Broods Anti-Drogen-Tirade „Dope Sucks", der „Gorbatschow-Rap" von Stiefvater Wolf Biermann, das „Ave Maria" und diverse Eigenkompositionen wie „Super Freak Family" zu Kabinettstücken einer souveränen Sängerin, die ihr Pop-Handwerk versteht. Schrille Hommage und kesse Parodie greifen ineinander. Genau das war stets die Essenz glorios kitschiger Popmusik.


Titel: Michael Jackson - Flammen aus den Fingern Ausgabe: DIE ZEIT 18/1988 (29.04.1988)

URL: http://www.zeit.de/1988/18/flammen-aus-den-fingern

Beginn der Welttournee in Amerika — Perfekter Entertainer, seltsame Branche Er ist „der schlechteste Sänger des Jahres", mit dem „schlimmsten Album", der .scheußlichsten Plattenhülle" und den „furchtbarsten Videos", der „am geschmacklosesten gekleidete Rockstar", dem 1987 das „am wenigsten willkommene Comeback" widerfahren ist. So urteilten Leser der Musik-Illustrierten „Rolling Stone" in ihrer alljährlichen Abstimmung über Michael Jackson und die Promotion-Effekte für seine Langspielplatte „Bad". Die 226 Musikjournalisten, die die Wochenzeitung „Village Voice" vor kurzem zu Richtern über das abgelaufene Pop- und Jazz-Jahr bestellte, reagierten vornehmer auf die Konfrontation mit dem Jackson-Cover — sie erwähnten es gar nicht erst. Dafür setzten 115 von ihnen in der Tabelle der besten Alben des Jahres den Jackson-Antipoden Prince und sein „Sign 'O' the Times" auf den ersten Platz.

Auf der Suche nach dem „widerwärtigsten Video-Clip aller Zeiten" wurde zur gleichen Zeit die New York Times überraschend schnell fündig: Michael Jacksons „Man in the Mirror", eine Montage aus Elendsbildern der Dritten und Vierten Welt, verschnitten mit Nachrichtenmaterial von Bischof Tutu, Mutter Teresa, Martin Luther King und Ghandi bis zu John Kennedy, Lech Walesa und John Lennon. Hunger-Schick und Terror-Glamour als Verkaufshilfen haben sich ausgezahlt: „Man in the Mirror", die vierte Single aus „Bad", erreichte wie ihr Vorgänger-Titel mühelos den ersten Platz der US-Charts. Das neue Jackson-Album hat sich bislang zwölf Millionen Mal verkauft (bundesdeutscher Umsatz: 900 000 Stück), und dennoch geht das böse Wort vom „relativen Flop" um (zum Vergleich: „Thriller" von 1982 erreichte eine Weltauflage von 45 Millionen Exemplaren und fand in Deutschland 1,2 Millionen Abnehmer).

Michael Jackson wird erbarmungslos am absurd hohen Maßstab gemessen, mit dem seine Dauer-Propagandisten ihn von den gewöhnlichen Sterblichen der Rockindustrie abgrenzen wollen. Die Klatschgeschichten über den einsiedlerischen Ultrastar bedienen sich inzwischen jeder grotesken Unterstellung und schrecken auch vor alptraumhaften Spekulationen nicht zurück. So soll Michael, wenn einer töricht genug ist, abgestandene „Bild" -Storys zu glauben, in Wahrheit seine Schwester La Toya sein — als käme eine Künstlerfamilie, die seit mehr als zwanzig Jahren in der internationalen Öffentlichkeit agiert, mit einem derartig überdrehten Hosenrollen-Spiel durch.

Neben einem Zoo mit exotischen Tieren, einem Zimmer voller Schaufensterpuppen und einer Privat-Geisterbahn soll sich Jackson inzwischen auf seinem Grundstück in Encino, Kalifornien, einen Schrein für die angebetete Schauspielerin Elizabeth Taylor zugelegt haben. Angeblich bleibt ihm nur diese Ersatz-Kulthandlung, weil die Diva seinen Heiratsantrag abgelehnt habe. „Ich weine sehr oft, denn das alles tut so weh", klagte „Whacko Jacko" („Macken-Michael", wie ihn die britische Boulevardpresse schimpft) ausgerechnet in einem Brief an die Klatsch-Zeitschrift „People". „Habt doch Mitleid, denn ich blute schon seit langer Zeit." Wenn die Meute aber erst einmal Blut geleckt hat, bleibt sie auf der Fahne. Michael Jackson scheint zum Abschluss freigegeben für übersättigte Musikjournalisten und ein sensationslüsternes Konsumentenpublikum. „Ich stelle mir den Durchschnittsmenschen immer vor als jemanden, der auf mich zustürzt und versucht, mir die Kleider zu zerreißen", behauptet der 29jährige Sänger, der stets Star war, nie eine Kindheit hatte und seine Pubertät nun durch kosmetische Korrekturen oder Quacksalber-Kuren ins Unendliche verlängern möchte. Der erste Superstar des globalen Dorfes ist in der Bredouille. Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht und Musikstil sind Kategorien, nach denen ihn die Fans von Baku bis Borneo nicht mehr taxieren. Er hat sich clever zum universalen Populär-Mythos entwickelt, zum E.T. aus der Rhythm & Blues-Milchbar. Dabei entspricht die hysterische Reaktion der Öffentlichkeit gar nicht der kulturhistorischen Bedeutung seiner Musik. Doch seine naiven Tanzschlager von romantischer Teenager-Liebe und halbstarker Rastlosigkeit sind ein so wichtiger Faktor in der Freizeitindustrie der Medienkonzerne, dass sie automatisch große Aufmerksamkeit finden. Ein überkandidelter Rock-Journalismus hat inzwischen alle halbwüchsigen Lust- und Frust-Artikulationen soziologisch verbrämt und ästhetisch verklärt. So kann es dann kommen, dass ein intelligenter Pop-Handwerker wie „Talking Heads"-Leader David Byrne von Time gleich zum „Renaissance-Menschen" geadelt wird. Da muss wohl einer verrückt spielen, um normal zu bleiben. Michael Jackson weiß, dass jeder Tag, der ihn älter werden lässt, seine Peter Pan-Existenz gefährdet.

Deshalb kauft er sich ein synthetisches Kindertraum-Paradies zusammen und fühlt sich nur dort wohl, wo Schein- und Schallwerfer Raum und Zeit aufzuheben scheinen — auf der Bühne. Musikalisches Illusionstheater Seine spektakuläre Show, die im Frühsommer Deutschland erreichen wird, ist ein Paradebeispiel musikalischen Illusionstheaters. Jackson live hat keine Botschaft, er vermittelt oder verstärkt kein Lebensgefühl. Er sagt und singt nichts über sich, will weder Kumpel noch Rattenfänger sein. Er bietet zwei Stunden lang nonstop in achtzehn Songs den Mythos Jackson in scheinbar greifbarer Nähe Im Grunde verfährt sein kommerzieller Rivale Prince nicht anders mit dem Publikum. Auch er ist scheu und schrullig. So lässt er in Discos, auf Partys und bei Empfangen allen Gästen durch seine Leibwächter jeden Versuch, einen Blick mit ihm zu wechseln, verbieten. Vergangene Weihnacht plante er unter dem Tarnnamen „Somebody" die heimliche Veröffentlichung eines Albums ganz in schwarz, ohne jede Angabe zu Inhalt und Interpreten (WarnerWX 147). Da jedoch der von ihm gewünschte Veröffentlichungstermin nicht eingehalten werden konnte, weil die Presswerke gerade mit Hochdruck einen Disco-Mix der Dame Madonna herstellten, blies Prince die manierierte Verkaufsoffensive beleidigt wieder ab. Raubkopien des unveröffentlichten „Black Album" sind nun beinahe an jeder Straßenecke zu kaufen. Noch exzentrischer agierte der erotische Animateur 1986/87, als er der Vertriebsfirma WEA drei Plätten seines Albums „The Crystal Ball" anbot. Ohnehin sind solche umfangreichen Platten-Editionen auf dem Pop-Sektor schwer verkäuflich. Was die Warner-Brüder jedoch irritierte, war, dass Prince alle Stücke mit technisch hochgepuschter Falsett-Stimme als seine vermeintliche Schwester „Camille" vortrug. Für Mai hat er nun den neuesten offiziellen Vorstoß mit dem Album -Love Sexy" geplant, möglicherweise zusammengestellt aus den 350 Musiktüfteleien, die er in seinen Paisley Park-Studios bei Minneapolis bereithält. Unter all den Freaks und Hasardeuren im Recycling-Business des Rock ist Prince der King. Im Niemandsland zwischen Hippie-Historie und Synthi-Moderne sehen aber manche Kritiker statt eines Power-Rock-Prinzen nur einen Porno-Grafen am Werke: „Er fummelt dauernd an sich herum und drückt ganz aufgeregt auf seinen elektronischen Selbstauslöser; doch nichts passiert." In der Tat verpufft sein Feuerwerk von rockhistorischen Deja vu-Effekten oft sehr schnell, ist dabei aber doch dem gängigen amerikanischen Hitparaden-Pop stilistisch um Jahre voraus. „Luzifers Antwort auf Michael Jackson" (The Face) bastelt in atemberaubender Fertigkeit immer wieder neue, aufregende Puzzles aus den Pop-, Soul-, Funk- und Blues-Versatzstücken des modernen Rock, erreicht dabei allerdings nicht die Grandeur Michael Jacksons. Wenn das „Bambi der Rockmusik" (USA Today) mit seiner Falsettstimme durch oftmals banale Nonsensverse winselt, sich in Murmeln, Stöhnen, Schluckauflauten verliert, mit schweren Atmen den polyrhythmischen Background-Effekten voran haspelt und schließlich mit pubertären Kieksern wartet, bis ihn die Musik wieder einholen kann, dann vereinen sich über schuld und ausgekochter Professionalismus, und-S verstellte Gefühlstiefe und ausgefuchste Kalkulation zu einem explosiven Gemisch. Mit einem Team von vier Sängern, vier Tänzern und sieben Musikern wirbelt Jackson durch sein Repertoire, erweitert seine Hits zu spektakulären Shownummern, tanzt sich in Ekstase.

Fred Astaire hat über das Energiebündel einmal gesagt: „Er bewegt sich wundervoll, es ist das reine Vergnügen, ihm zuzuschauen." Wahrhaftig, Jacksons exzessiver Tanzstil ist seit den Videodarbietungen von „Beat It", „Billie Jean" und „Thriller" noch kühner geworden. Jacksons Tanz ist Bewegung um ihrer selbst willen, Akrobatik einer enthemmten Körperlichkeit, scheinbare Aufhebung der Schwerkraft. Er schüttelt sich, als wolle er sich Elektrizität aus dem Leib schlagen, wirbelt sich in eine Pirouette hinein, fällt zu Boden, rollt vornüber, springt hoch und nieder wie auf einem unsichtbaren Trampolin, hetzt im Stepschritt über die Bühne, rutscht mutwillig aus und fängt sich mit einem Hechtsprung. Das wirkt zwar bisweilen zufällig, grobschlächtig. Doch wenn die Tänzer ihn dann akkurat imitieren, wird die ausgeklügelte Präzision der Jackson-Choreographie augenfällig. „Gibt es überhaupt noch jemanden, der wie Michael tanzen kann?", fragte die Ballettkritikerin der New York Times nach dem Konzert, geradezu trunken vor Begeisterung. All die Gerüchte über seine absonderliche Lebensführung, die Häme der blasierten Trend-Schickis und die Überzogenheit der ersten Konzertberichte aus der amerikanischen Provinz („seelenloses Spektakel") hoben sich auf angesichts der beiden Jackson-Auftritte im New Yorker Madison Square Garden und bei der Grammy- Verleihung Anfang März Die Grammy-Show ist die alljährliche Gratulationscour der Branche für die Branche. Im Auftrag der „National Academy of Recording Arts and Sciences" (NARAS) «mitteln sechstausend Juroren (Musikverleger, Manager, aktive Künstler) in mehr als siebzig Kategorien von Pop bis Polka die Spartengewinner eines kleinen goldenen Trichtergrammophons.

Die dreißigste Verleihung des Prestige-Preises in der Radio City Music Hall wurde zu einer Blamage der angeblichen Experten: Der vom Getto in den Mainstream geratene Sprechgesang des „Rap" wurde ebenso ignoriert wie die erfolgreichen Fächer „Dance Music" und „Heavy Metal". In der Abteilung „Rocksängerinnen" war die Jury unfähig, fünf Grammy-Kandidatinnen zu finden. Die meisten NARAS-Mitglieder sind immer noch einer altmodischen Tin Pan Alley-Ästhetik verhaftet und halten Rock, dreißig Jahre nach „Tutti-Frutti", immer noch für ein exotisches Subgenre. In ihrer Hilflosigkeit und Inkompetenz wählten sie eine Hollywoodschnulze zum Song des Jahres und gaben Paul Simon schon wieder einen Hauptpreis für sein 1986 erschienenes Album „Graceland", das in diesem Jahr eigentlich gar nicht mehr hätte nominiert werden dürfen. Michael Jackson erhielt diesmal keinen Grammy, wohl aber eine stehende Ovation für die Tanz-Pyrotechnik seines Weltverbesserungs-Schlagers „Man in the Mirror".

Die Grammy-Übertragung im Fernsehen wurde mit vier Werbespots seines Tournee-Sponsors Pepsi garantiert, die den Star nicht etwa beim Brausetrinken zeigten, sondern im Hexenkessel seiner Live-Show und auf der Flucht vor enthemmten Fans. Wenn Michael Jackson Werbung macht, dann macht er vor allem Werbung für sich selbst. Nur so ist die stillose Verwendung seines Songs „Bad" in der Getränk-Empfehlung zu verstehen. Denn normalerweise geben Superstars das Kernmaterial ihres (Euvres nicht zu Werbezwecken her. So verklagten die Beatles im vorigen Jahr die Turnschuhfirma Nike auf achtzehn Millionen Dollar Schadenersatz, weil der Sportausstatter einen Reklamespot mit dem Pilzkopf-Klassiker „Revolution" unterlegt hatte. Die Rechte hatte sich Nike beim neuen Besitzer der Beatles-Copyrights besorgt: bei Michael Jackson. Funkensprühende Anzüge Im Madison Square Garden kam Pepsi nicht zum Zuge, denn dort hat Coke die Ausschank-Konzession. Dafür machte Michael sein Publikum geradezu betrunken mit all den Effekten, Tricks und Gags, die sich bei 500 000 Dollar Produktionskosten pro Woche realisieren lassen: mehrfarbige Lasergewitter, Lichtbomben, fluoreszierend glühende Nebelwände, funkensprühende Anzüge, Fiberoptik-Perücken und Videogroßprojektionen aus extravaganten Kamerapositionen gehören da schon zur Grundausstattung.

Ein Zaubertrick von Siegfried und Roy aus Las Vegas lässt Michael in einem silbrigen Zylinder verschwinden und Sekunden später am anderen Bühnenende im neuen Kostüm wieder auftauchen. Bei seinem Anti-Macho-Hit „Beat It" hebt sich ein Auslegerarm aus dem Bühnenboden und trägt den Sänger weit über die ersten Parkettreihen, während unsichtbare Windmaschinen effektvoll Hemd und Haare flattern lassen. Wenn er sich zu seinen erotisch überhitzten Songs in den Schritt fasst, zucken schon mal Flammen aus den Fingern. Gelegentlich verliert er sich in pantomimischen Kabinettstückchen ä La Marcel Marceau, oft genug fegt er mit seiner Tanzgruppe über die Bühne, als habe ihm der selige Broadway-Hero Bob Fosse bei seiner Zappel-Akrobatik assistiert. Die gängigen Anti-Jackson-Attribute wie „effeminiert" oder „larmoyant" treffen auf diese hyperkinetische Show nicht zu. Die Gitarristin Jennifer Batten gibt einen metallisch krachenden Beat vor, bei dem Jackson sich so gut wie keine Weinerlichkeit leistet. Ausgerechnet der als wimp (Schlaffi) gescholtene sanfte Star steigert sich in einen bisweilen manischen Dampfhammer-Pop, als habe er ein getrübtes Image zu dementieren. Ein Zoomblick durchs Fernsehen bestätigt: Der Mann hat wirklich Freude, sich in der Neon-Manege seines Tournee-Zirkus zu verausgaben; er hängt nie durch und baut jeden Song so auf, als sei dies seine letzte Chance einer Pop-Show auf Erden. Nur bei einem Medley der alten Songs aus seiner Kinderzeit („I Want You Back", „The Love You Save") wirkt er indifferent, als dürfe der Peter Pan der Popmusik keine Vergangenheit haben. Doch dann holt er unter den „ Woof woof -Schreien der enthusiasmierten Fans aller Hautfarben, Altersgruppen und sozialen Herkunft zum Finale mit „Billie Jean" aus.

Und tanzt seinen „Moonwalk", jene unnachahmlich vertrackte Schrittkombination, als gleite ein gut geölter Roboter auf unsichtbaren Kufen über die Bühne. Die Stimmung im Garden hat die Dezibel- Werte einer startenden Apollo-Rakete erreicht. Michael Jackson ist der perfekte Entertainer, ein Magier und Illusionist von hohen Graden. Wenn er sich mit leicht eingeknickten Beinen in Hochwasser-Hosen, weißen Socken und ganz normalen Straßenschuhen wie ein Ballettstar auf die Zehenspitzen stellt und den Schlapphut tief ins Gesicht schiebt, dann ist diese Pose genauso unvergesslich wie Charlie Chaplins watschelnder Gang. Er ist zu einer Ikone der amerikanischen Populärkultur geworden.


Titel: Provinz zum Todtraurigsein Ausgabe: DIE ZEIT 50/1987 (04.12.1988)

URL: http://www.zeit.de/1987/50/provinz-zum-todtraurigsein

Wo ist der Yuppie wirklich zu Hause? In Piano-Bars, Boutiquen und Trend-Restaurants mag sich sein Körper wohl fühlen. Wo aber kann sich seine Seele ausruhen, was tut der urbane Aufsteiger, wenn Heimweh haben auf einmal schick ist? Dem schwarzen Intellektuellen bleibt immer die geistige Verbindung zur Gospelkirche seiner Kinderjahre, zum Jazz aus New Orleans und Chicago, zum derben Blues der Bessie Smith, zum bittersüßen Swing der Billie Holiday. Alle spanischsprachigen Aufsteiger mögen sich mit stolzer Wehmut an die Salsa-Nächte im barrio erinnern, an die Festival-Bands ( conjun tos) auf den Straßen Havannas, an die Tanzband-Schlachten zwischen Kubanern und Puertorikanern in den Ballrooms am oberen Broadway. Die weißen Angelsachsen (WASPs) hingegen wissen nicht so recht, musische Brücken zu ihrer Vergangenheit zu schlagen. Die meisten Amerikaner sind auf dem flachen Land groß geworden. Nun machen sie in lärm und smogverpesteten Metropolen „bei Tag die Runde durch die Büros, bei Nacht die Runde durch die Bars", wie es sinngemäß in einem Song heißt. Sehnsucht nach dem „grünen, grünen Gras der Heimat" mag mancher in der urbanen Tretmühle empfunden haben, nur wollte wohl niemand solchen Heißhunger auf Provinz zugeben.

Jetzt aber lassen auch fanatische Neo-Großstädter ihren unterdrückten Neigungen freien Lauf. Sie träumen sich in den neuen Country-Songs zurück zum Maisgürtel ihrer Jugend und schlagen mit den Songs von Steve Earle, Randy Travis und den Judds eine therapeutisch wichtige Brücke zu ihrer Vergangenheit. Endlich haben auch Yuppies eine ethnische Identität. Fast alle Ausreißer- und Aufsteiger-Storys beginnen mit jenen legendären Nächten, in denen ein einsamer Country-Boy oder ein verlorenes Cowgirl irgendwo in Kansas, Nebraska oder Idaho an der Landstraße steht und den vorbeipreschenden Fernlastzügen nachschaut. Die Überholspur des Lebens führt immer noch an den meisten Ortschaften Amerikas vorbei. Diese Kaffs haben nicht mal Bürgersteige, die man abends hochklappen könnte. Das Aids-Trauma von San Francisco, der New Yorker U-Bahn-Rächer Bernhard Goetz oder die Iran-Contra-Hearings in Washington mögen da in den Fernsehnachrichten wie Berichte von einem fernen Planeten über die Bildschirme flimmern. Es gibt sie wirklich noch immer – die coffee shops zur großen Einsamkeit, die Bars, in denen jeder ganz für sich alleine in seinen Drink starrt, während die Jukebox dudelt: „Es tut mir schon gar nicht mehr weh, wenn ich heut Abend wieder vom Hocker falle." In den Fernfahrerkneipen, Bowlinghallen, Eisdielen und gigantischen Lebensmittel-Hangars – die Menschen des Mittelwestens scheinen immer zu warten, auf der Suche nach irgend etwas zu sein. Zu großen Teilen ist Amerika immer noch Provinz zum Todtraurigsein. Die Country-Balladen zeichnen das Psychogramm dieser wartenden Gesellschaft. Alkohol, Abtreibung, Alleinsein, abtrünnige Liebe sind die Standardthemen für Menschen im Bermuda-Dreieck von Bar, Bett und Baseballplatz. Ein zorniger junger Mensch mit literarischen Ambitionen, der da raus wollte, nahm ehedem seine Klampfe und wurde Beatnik oder Folk-Protestler. Für weiße Kids aus der Provinz ist die Gitarre das, was für schwarze Getto-Jugendliche der Basketball oder die Sprinter-Spikes sind. Wer ein derberes, weniger kunstsinniges Gemüt hat, schwingt sich auf einen Truck und träumt sich in die Illusion hinein, der letzte Cowboy auf Rädern zu sein. Die Städter haben dieses Gefühl nie verstehen wollen.

Country-Sänger – das waren für sie Blondinen mit übergroßen Perücken und einem eingefrorenen Lächeln, die Lieder vom traurigen Los der Weiblichkeit oder der Treue zu eigensinnigen Männern krähten. Man lachte über ihre straßbesetzten Jacken und riesigen Hüte, und wie ihnen echte Wehmut oder falscher Wermut die Stimme in weinerliche Höhen trieb. Dabei sind es doch ganz anheimelnde Erinnerungen an jene versunkenen Jahre, als Amerika unschuldiger und die Welt unkomplizierter schien. Da versammelte sich die Familie Samstagabends um das alte Philco-Batterieradio und hörte der „Grand Ole Opry" zu, die 1926 als Amateur-Show für regionale Talente gestartet wurde und von Nashville aus über den Äther „ein musikalisches Band um Amerika" schlang. In den frühen zwanziger Jahren dann entwickelte sich die kommerzielle Country-Musik aus Appalachen-Folklore, britischen Chorälen, irischen Volksweisen und schwarzen Gospelgesängen. Zu den „Pilgervätern" der Country-Musik gehörte die Carter Family aus Virginia, die die Hillbilly-Weisen des Landvolks sammelte und dieses Repertoire mit heute klassischen Eigenkompositionen anreicherte. Zu jener Zeit wurde der jodelnde Cowboy Jimmie Rodgers zum ersten Country-Idol, dem in den dreißig« Jahren die singenden Kino-Cowboys Roy Rodgers und Gene Autry folgten. Nach dem Zweiten Weltkrieg schwemmte die Country-Musik mit den Fremdklängen von Schlagzeug, Hawaiigitarre: Bläsersätzen und Violinbegleitung zu „Country and Western" auf. Der erste Meister dieser Mischung aus multiregionalen Sound-Einflüssen war Hank Williams, der bis zu seinem Tode (1953) mehr als 125 Country- Klassiker schrieb, darunter „Jambalaya", „Your Cheatin' Heart", „Kaw Liga", und der den Blues der kleinen Leute mit „mehr weißem Soul-Gefühl" sang, „als erlaubt sein sollte" (so der Country-Historiker Paul Hemphill) Country-Musik erzählt Geschichten vom wahren Leben aus der Kleinbürger-Perspektive. „Das ist Journalismus nach Noten", behauptete einmal der Country- Veteran Merle Haggard. „Alles, was Großmutter pfeifen, summen oder singen kann, ist Country", definiert ein Diskjockey diese Musik. Und ein Kollege ergänzt: „Wenn Sie lange genug einer Country-Station zuhören, wird einer der Songs auch Ihre Geschichte erzählen, Mister. Die Geschichten jedoch wurden sich im Lauf der Jahrzehnte immer ähnlicher. Stets fuhren die gleichen Requisiten ins ländliche Idyll – Lastwagen, Eisenbahnen. Stereotype Helden agierten auf ein und denselben Bühnen in sich gleichenden Storys, wie sie halt das Leben so abschreibt. „Der ideale Song", meinte einmal das Magazin Time, „könnte von einem Typ handeln, der aus dem Gefängnis freikommt, auf einem Lastwagen heimwärts donnert, seine grüne Witwe beim Fremdgehen erwischt, sich daraufhin einen antrinkt und seinem endgültigen Schicksal vor einem heranbrausenden Güterzug verfällt. Das wurde Anfang der siebziger Jahre ganz anders. Die Country-Musik kämpfte sich aus den Fernfahrerkneipen und Supermärkten frei und ging auf die Protest-Barrikaden. Die Klänge der Heimat jaulten in melancholischen Dissonanzen S der Sozialkritik und Zivilisations-Frustration.

Johnny Cash, Tom T. Hall, Kris Kristofferson E und John Prine konfrontierten die heile Country-2 Welt mit ihrem „klingenden Journalismus" von Vietnam, Watergate, LSD, Kapitalmacht und Umweltschutz. 90 Prozent aller Country-Platten werden in Nashville von über 3000 gewerkschaftlich organisierten Musikern in jährlich mehr als 35 000 Aufnahme- Sessions hergestellt und von 1000 Musikverlegern und 200 Plattenlabels an den Fan gebracht. Nashville wurde zur Industriestadt in Sachen Volksmusik, wurde zu „Cashville". Großes Geld aber war mit traditionell getönter Musik nicht mehr zu machen. Eine neue Konsumenten-Generation hielt nichts von den „handgemachten" Erbauungs-Schnulzen und sentimentalen Moritaten. Die wollte Rock und Fun. Wenn schon Gefühle sein mussten, dann Designerfeelings, so cremig und schick wie es dem „Stil der neuen Zeit" entsprach. „Crossover" hieß das neue Zauberwort: Anleihen beim Rock, beim Techno-Pop, weniger Ländliches, dafür aber mehr Las Vegas. Kenny Rogers war Vorbild für die „urbanen Cowboys", die überall in den Städten mit maßgeschneiderten Stiefeln, Couture-Jeans und teuren Hüten auftauchten. Country-Musik degenerierte zum Schlagersound unserer Tage; ein Genre war drauf und dran, jegliche stilistische Identität und historische Orientierung zu verlieren.

Hilfe kam von den „Neo-Traditionalisten" wie dem jungen Bluegrass-Saitenspieler Ricky Scaggs, der sich zwar der strikten Spielweise des legendären Mandolinen- Virtuosen Bill Monroe verpflichtet fühlt, sein eigenes Repertoire aber mit zeitgemäßer Verve und Coolness erarbeitet. Den Neotraditionalisten lag nicht daran, noch einen neuen Sound zu kreieren. Ihnen gemeinsam war lediglich eine ästhetische Vision davon, was für die Country-Musik essentiell ist und wohin sie sich in einer Epoche extrem aufgefächerter Musikgeschmäcker und Genres bewegen könnte. Country-Musik mag grob als die Artikulation von intensiven Gefühlen definiert werden, als Song-Szenarium, das eine typische Situation in einem Alltagsmilieu beschreibt und dabei Binsenwahrheiten und handfeste Wortspiele nicht verschmäht. Die musikalische Begleitung ist simpel, die Fiddle lässt der Violine keinen Platz, und der dreistimmige Hillbilly-Chorgesang wird dem Schwellklang eines Studio-Chores vorgezogen.

In dieser Eingrenzung lässt sich auch zeitgemäße Musik machen, die wieder einen ethnisch eindeutigen Umriss hat. Randy Travis aus North Carolina, der versierte Vokal-Techniker mit dem schwermütigen Tremolo, Dwight Yoakam aus Kentucky, ein nach Hollywood emigrierter „postmoderner" Hillbilly-Haudegen, und der Folk-Rocker Steve Earle aus Texas sind die auch vom Nashville-Establishment anerkannten Star-Neuerer. Ihr Erfolg gibt auch jenen Bands eine Chance, die countrymusikalisch ein bisschen ungenierter auf den Putz hauen (Lone Justice, Beat Farmers, Jason and the Scorchers). Während die Sonne über dem Traum-Reich von Ron und Nancy langsam sinkt, weht ein härterer, frischerer Wind. Entwurzelung im Konsumrausch wird fragwürdig auch in Amerika; Engagement und ethnische Verantwortung sind wieder (wie zu Zeiten Kennedys) im Kommen.

Die Yuppies sind bei der Suche nach ihren .roots" auf eine Musik gestoßen, die heute von 2275 Radiostationen gesendet und von nahezu der Hälfte aller Musikkonsumenten unter 24 gern gehört wird. Country-Musik kann anheimelnd sein, ohne zur Heimatschnulze zu verkommen, kann sich der kleinen Dinge des Lebens annehmen, ohne die großen Probleme, die uns plagen, zu ignorieren. Eine neue Generation von Sängern rehabilitiert ein diskreditiertes Genre.


Titel: Peter Pan im Garten der Lüste Ausgabe: DIE ZEIT 42/1987 (09.10.1988)

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Michael Jackson: der Star, der alles ist und alles hat Michael Jackson und seine neue Platte „Bad" ... ; Bad" - Barry Graves - Aus dem Tagebuch eines Unterhaltungskünstlers: Januar 1984. Habe mir das Haar beim Drehen eines Pepsi-Werbespots versengt. 1,5 Millionen Dollar Produktionskosten, aber kein Feuerlöscher im Studio. März 1984. Acht Auszeichnungen für „Thriller" bei der Grammy-Verleihung. Als ich zum achten Male auf die Bühne gerufen wurde, habe ich die Sonnenbrille abgenommen und ganz lässig gesagt »Meine Freundin Katherine Hepburn ist der Ansicht, das könnte ich ruhig mal für Euch tun.

Die Kids auf dem Rang waren außer sich. Mai 1984. -Thriller" kommt ins Guiness-Buch der Rekorde als meistverkauftes Album aller Zeiten. Das sind für CBS 320 Millionen Dollar Umsatz bei 38,5 Millionen Planen. Wenn man bedenkt, dass ich mit 42 Prozent vom Großhandelspreis an jeder LP beteiligt bin Mai 1984. Präsident Reagen sagte mir im Weißen Haus, dass sich für mich der amerikanische Traum erfüllt habe und dass ich ein Vorbild sei Dann wollten sie mich zum vegetarischen Essen einladen. Doch als seine Leute Autogramme von mir verlangten, bin ich auf die Herrentoilette geflüchtet. Juli 1984. Ich mache mit meinen Brüdern nur deshalb die „Victory"-Tour, weil mich meine Eltern darum gebeten haben. 30 Dollar pro Kid zu verlangen, ist eigentlich eine Unverschämtheit. Dezember 1984. Das hat man nun davon: 54 Shows mit 2,3 Millionen Besuchern bei 70 Millionen Dollar Kasse sind zwar ein Rekord, doch die Geldgier meiner Brüder hat mir bloß eine schlechte Presse eingebracht. März 1985. Mein Ebenbild in Wachs wird bei Madame Tussaud's in London enthüllt. Im linken Auge sitzt ein Stroboskop-Blitz, die Jacke glüht in Abständen auf, der straßbesetzte Handschuh reflektiert Laserstrahlen. August 1985. Habe für 47,5 Millionen Dollar den ATV-Musikverlag mit über 260 Beatle-Songs und 5000 anderen Copyrights gekauft. Mein Freund Paul McCartney, der gegen mich geboten hat, geht nicht mehr ans Telefon, wenn ich anrufe. Dezember 1985. Die Post der British Virgin Islands bringt mich nun doch nicht auf Briefmarken heraus.

Die königliche Familie ist dagegen, dass noch jemand außer ihnen im Commonwealth auf Wertzeichen erscheint. Februar 1986. Einige weitere Grammys erhalten nur meine Beteiligung am Anti-Hunger-Song „We Are the World". CBS fragt, wo meine neue LP bleibt. Dieser Prince macht mir doch einiges Kopfzerbrechen April 1986. Ein neuer Kontrakt mit Pepsi. 15 Millionen Dollar für drei Werbespots, die in 14 Ländern gezeigt werden sollen. Gott sei Dank brauche ich die Dose nicht in die Kamera zu halten, wo doch jeder weiß, dass ich nur Evian trinke. 1986. CBS will wissen, wann ich mit September 1986. »Captain Eo", der 3-D-Film von Francis Coppola und George Lucas, hat (mit mir in der Titelrolle) in Disneyland und Disneyworld Premiere. Er ist mit 20 Millionen Dollar bei 17 Minuten Laufzeit der teuerste Film aller Zeiten; trotzdem werde ich nicht zur Uraufführung gehen. Oktober 1986. Nun haben sie doch das Bild gebracht, wie ich in der 125 OOO-Dollar-Sauerstsoff-Kammer hege, um 150 Jahre alt zu werden. Was fällt meinem Manager ein, der Presse zu erzählen:. Manchmal verstehe ich ihn auch nicht mehr"?! Pepsi wird ungeduldig, weil die LP immer noch nicht fertig ist. Januar 1987.

Die „Michael Jackson Kollektion" mit 167 verschiedenen Jeans, Jacken, Pullovern und Mänteln ist nicht sonderlich gut angekommen. Es fehlt die LP, sagen die Fachhändler. Und wenn die nun auch ein Flop wird? 31. August 1987. „Bad" ist endlich auf dem Markt. 2,5 Millionen LPs, CDs und Cassetten sind allein in den USA vorbestellt worden. Wieder ein Rekord. Und das Video von Martin Scorsese wird ab morgen überall in der Welt zur Hauptsendezeit ausgestrahlt. 12 September 1987. „My-re-ku! My-re-ku!" haben 40 000 begeisterte Fans im Korekuen-Stadion von Tokio ausdauernd gerufen. Was für ein Tourneestart hier in Japan: 300 000 Tickets in nur einer Stunde verkauft! Die Kids kriegen für ihre 45 Dollar ja auch einiges geboten. Er war schrecklich deformiert, überraschte aber durch eine sanfte poetische Seele, ein unschuldiges Kind in einer Travestie von Körper, ein edler Wilder, den die Zivilisation gedemütigt und zerstört hat.

Er verfügte, wie sein Arzt zu berichten wusste, über das Gehirn eines Mannes, die leidenschaftlichen Interessen eines Heranwachsenden eines Kindes. – So beschriegenossen den „Elefantenmenrrick, der 1890 im Alter von ? starb, nachdem er von der Attraktion zum Darling der anischen Kunstzirkel aufgestiegen war. Michael Jackson, 29, hat für die sterblichen Überreste Merricks einem Londoner Institut wiederholt mehr als 500 000 Dollar geboten. Es kann nur Spekulation sein, inwiefern er eine Seelenverwandtschaft zu der unglücklichen Berühmtheit des Elefantenmenschen empfindet. Seit Michael auf Geheiß seines Vaters mit acht Jahren neben seinen Brüdern Clan der "Jackson 5" aufgetreten war, haben ihn die Scheinwerfer des Ruhms nicht mehr losgelassen. -Nur auf der Bühne fühle ich mich zu Hause", gab er einmal zu. „Da lebe ich, da wurde ich geboren, da allein bin ich sicher." Armer reicher Junge, der die Einsamkeit des Gipfelstürmers spürt, der alles erreicht hat und von dem nun immer wieder alles erwartet wird, der wie Peter Pan nie erwachsen werden mag und dem im Plattenstudio und Konzertbühne Chance geben, nach seinen wirren schen glücklich zu sein. Kann er dieser höllischen Tretmühle entrinnen, weil er sich in einer Jekyllstenz gefällt. So gern sich nämlich bei der Rockmusik im Zaubergarten Disneyland-Phantasien verirrt und dabei Eskapismus für „etwas Wunderbares" hält („man fühlt sich toll und hat die Kraft, etwas Besonderes zu vollbringen"), so unromantisch weltgewitzt weiß er andererseits auch seine Business-Interessen zu vertreten und seine globale Kuriere zu steuern. Viele Leute missverstehen mich, weil sie mich nicht kennen", wispert Jackson zu Recht in seinem Song „I Just Can't Stop Loving You".

Doch der Einsiedler, der mit seiner bibelfrommen Mutter, nur einer Giraffe, einem Lama und dem Rollschuhfahrenden Schimpansen Bubbles in einem Landschloß bei Los Angeles residiert, macht mehr denn je durch groteske Geheimniskrämerei und bedenkliche Schrullen von sich reden. Seit einiger Zeit scheint zur inneren Unrast eine immense Unzufriedenheit mit dem Äußeren gekommen zu sein. Drei Nasenkorrekturen – so kolportieren Kenner der Schönheits-Chirurgie -, zwei Kinnoperationen, Fettdrainagen, Wangenknochen-Implantate und Haut- Aufhellungen haben Jackson zu einem androgynen Mutanten transformiert, der im neuen Video -Bad" nur erschreckt und nicht erfreut. Michael will „schöner" aussehen, er hat auch das Geld, sich einer intensiven Frankenstein-Prozedur zu unterziehen. Viele seiner Fans würden womöglich ebenfalls gern an sich herummodeln lassen. Bei ihrem Idol macht das sogar in Maßen einen Sinn, denn das Showbiz verlangt in letzter Konsequenz die Veredelung eines Allerweltsgesichtes zu einem Glamour-Bild für alle Welt. Doch es gibt Grenzen der Selbstaufgabe für den Job. Wer sich als „Elefantenmensch" aus eigenem Antrieb zur Perversion einer Show-Existenz erniedrigt, stößt nur noch ab und weckt bestenfalls Mitleid – keine Gefühlsregungen, mit denen sich Fanclubs gründen lassen. Die „Bad"-Songs deuten in eine bedenkliche Richtung. Sie schillern nicht selten wie tückische Alpträume eines verzogenen Kindes im Irrgarten der Lüste, künden gequält von verzweifelter Liebe oder berichten in beinahe zynischem Übermut vom cleveren Taktieren mit Beziehungspartnern. Die von Quincy Jones in kalter Pracht inszenierten Arrangements sind eindrucksvoll wie Geschosse. Michaels bisweilen abenteuerlich akrobatischer Gesang hechelt nicht sinnlich-verschwitzt, sondern verblüfft wie ein kalkulierter Stunt. .Bad" ist auf brutale weise brillant. Doch der Macho-Pose Jacksons ist nicht zu trauen, so dass der Zuhörer letztlich am Ceuvre einer undurchschaubar verkorksten Showpersönlichkeit nicht froh wird. Die Dämonen des Ruhms haben den willigen Träumer zu einem Zombie mutieren lassen, der sich unter dem Horror seiner Ultrastar-Existenz quält. Aus dem Tagebuch eines Psychoanalytikers: „Michel Jackson weicht den individuellen Festlegungen aus, die nun mal zu einer Erwachsenen-Identität gehören. Er verkörpert statt dessen die Phantasie- Vorstellung, alles zu sein und alles zu haben.

Er scheint beide Geschlechter in sich zu vereinen, wirkt sinnlich und sexy, während er doch der liebe Junge bleibt, und vermittelt die Illusion, sowohl ein Weißer als auch ein Schwarzer zu sein. Er ist ewig jugendlich, Symbol der energischen Verweigerung, erwachsen zu werden und die entsprechenden Verantwortungen zu übernehmen. Das scheint die Jugendlichen heutzutage besonders anzusprechen, die weniger denn je daran interessiert sind, die vermeintliche Idylle ihres Halbwüchsigen-Daseins zu verlassen" (Dr. David Guttmann, Northwestern University)


Titel: So etwas wie eine Pionierin Ausgabe: DIE ZEIT 29/1986 (11.07.1986)

URL: http://www.zeit.de/1986/29/so-etwas-wie-eine-pionierin (über Brigitte Mira)

Noch mit siebzig unerschrocken im Geschäft: da kommt noch was Internationales Wenn ich unser Gespräch so überdenke", sagt Brigitte Mira zum Abschied, -dann hast du mir eigentlich nur Gemeinheiten aus der Presse zitiert. Hübsche Sachen habe ich wenige gehört." Das stimmt und ist doch nicht wahr. Zwar wurde sie „Witz-Nudel" genannt, „Krawalltüte" und -Hinterhof-Soubrette", auch als „Berufsberlinerin" charakterisiert, die als „bekannteste Tingeltante der Republik' durch -die "seichten Gewässer der Fernsehunterhaltung" treibe, doch wirklich übel vermerkt hat keiner der Schreiber, dass die Schauspielerin Brigitte Mira anscheinend wahllos auf Ochsentour durch Biergärten, Festzelte und Betriebskantinen ging. „Ich hatte eine Mutter und zwei kleine Kinder zu ernähren", verteidigt sie sich, „da habe ich manches Engagement angenommen, wo die Frau Meysel sicher abgewinkt hätte." Wir sitzen in Berlin am Drehort des ZDF-Fernsehfilms „Vicky und Nicky" in ihrer Garderobe, und sie hat eigentlich gar keine Zeit für ein Gespräch.

Die Maskenbildnerin färbt ihr die roten Haare nach; das bedingt Prozeduren, die die Unterhaltung ständig unterbrechen. Außerdem hat sie einen anstrengenden Tag vor der Kamera gehabt, der Regisseur war nicht bei Laune, und eine Reporterin vom Rundfunk ist ihr pampig gekommen. Unter solchen Umständen war es keine gute Idee, das Interview mit einem Strauß negativer Pressestimmen zu beginnen. Die Mira reagiert defensiv, nahezu unwirsch. „Was die Zeitungen so schreiben", sagt sie. „Ich war doch so gerne Soubrette, ich war der Liebling am Kieler Theater, ich hab bei Felsenstein an der Komischen Oper im .Pariser Leben' gesungen, ich war bei Schaeffers im .Kabarett der Komiker', ich hab bei Zadek in Bochum Theater gespielt. Das ist doch was, da brauch' ich mich doch nicht zu verstecken." Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie gern „richtig Gesang" studiert und wäre am liebsten Opernsängerin geworden. Der Vater, selber Musiker, härte es gern gesehen, wenn seine Tochter Musikpädagogin geworden wäre. Doch „Biggi" wollte lieber tanzen. „Schließlich", sagt sie kokett, „war ich sehr niedlich, eine hübsche Person, hatte eine gute Figur, mit wahnsinnig langen Beinen und einer Taille, die zwei Männerhände bequem umfassen konnten." Ihr Multitalent blieb nicht unentdeckt. An der Kölner Oper durfte sie vom Fleck weg in der „Verkauften Braut" die Esmeralda singen.

Siebzehnjährig ging sie als Soubrette nach Bremen. Franz Lehar holte sie zur deutschen Premiere von „Giuditta" nach Hamburg, und Willy Schaeffers engagierte sie schließlich als Kabarettistin nach Berlin. Die Aufzählung solcher Karriere-Stationen langweilt sie offensichtlich: „Alles, was früher war, finde ich entsetzlich. Ich lebe so in der Gegenwart, das kann ich dir gar nicht sagen."

Aber die Rückschau macht doch deutlich, dass vor Fassbinder, vor „Angst essen Seele auf" und dem Bundesfilmpreis von 1974 schon ein ausgeformtes Künstlerleben existiert hat. Dennoch kokettiert die Mira gern mit dem Image der „untergebutterten" Chargendarstellerin, die ganz gegen ihr Talent und wider alle ihre Sehnsüchte verheizt wurde, bis Rainer Werner Fassbinder kam. Der gab ihr Rollen mit Substanz, Kleinbürgerrollen, die einen Glanz von Schauspielkunst in der Wohnküchendekoration aufscheinen ließen. „Er war ein Schatz; über den ist soviel Scheiße erzählt worden", sagt sie drastisch. Aber beklagen nun nicht Leute wie Hanna Schygulla, er sei ein Menschenschinder gewesen? „Ja, aber dabei ist doch auch was rausgekommen. Was wäre denn die Schygulla ohne ihn schon geworden?" Sie kann ganz unerbittlich Zensuren verteilen, streift unversehens die Aura des lieben Münchens ab und scheidet, nach Lust und Laune, streng zwischen „gut" und „böse". Im Gespräch schwingt ständig ein Hauch von Unduldsamkeit bei ihren Antworten mit. Kategorisch erklärt sie: „Ich kann die kleinkarierten Kacker nicht ausstehen", so daß der Gesprächspartner erschrocken zusammenfährt: Zählt sie ihn etwa auch dazu, weil er ihr vorhält, daß ihre Zusammenarbeit mit Fassbinder nicht immer nur Kritikerjubel ausgelöst hat?

Dem Rezensenten der Welt kam sie bei ihrer ungenierten Selbstdarstellung in Fassbinders Fernseh-Show keineswegs „Wie ein Vogel auf dem Draht" vor, sondern eher, „als habe sich eine Polargans in einen Hühnerstall verirrt" Es stört sie nicht, daß der Regisseur sein Faible für die Mira mit seiner Neigung zur Männerliebe allzu aufdringlich verknüpfte. „Ich finde, die Schwulen sind so zauberhaft, und die verstehen so viel. Die haben eine Pointe so schnell weg, wo die anderen erst mal zwei Stunden daran knabbern." Es war für sie selbstverständlich, bei Benefiz-Veranstaltungen der Aids-Hilfe zu singen, zusammen mit Inge Meysel, an der sie vor allem bewundert, „wie die ihre Figur hält". Gibt es keine Rivalitäten zwischen den beiden? Schließlich nähern sich ihre Rollenfächer immer mehr an. „Na, hör mal, Deutschland ist so groß, da werden doch wohl zwei alte Weiber miteinander auskommen." Sie liebt es, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Fünf Männer gab es in ihrem Leben. Was lief da dauernd schief? „Ich kann doch nichts dafür, dass mich die Kerle immer heiraten wollten", antwortet sie neckisch; „ich bin ein Widder, alles, was mir nicht passt, versuche ich eben zu ändern", sagt sie dann.

Ein Schauspieler, ein Kaufmann, ein Musiker, ein Ingenieur – kaum war eine Ehe geschieden, war der nächste Gatte schon da. „Stimmt. Ein Herr hat mich immer vom anderen übernommen." Der Scheidungsgrund zumeist: „Die Männer waren mir oft zu dusselig." Und „Biggi", daraus macht sie keinen Hehl, möchte nun einmal zu einem Kerl aufblicken können. Als sie knapp über 40 war, traf sie Franki Guerente. Der war damals gerade 20 und Trompeter bei der US-Army in Berlin. Es war wohl Liebe, aber geheiratet haben sie erst 20 Jahre später. „Ich war damals so was wie eine Pionierin. Heute Einst war sie die Schönberger Soubrette vom Dienst. Dann gab ihr der Regisseur Rainer Werner Fassbinder in seinen Filmen Gelegenheit zum Beweis ihrer Schauspielkunst. Als Tänzerin, Kabarettistin und Schauspielerin hatte die gebürtige Hamburgerin Erfolg auf der Bühne, wenn auch nie den ganz großen. Am ehesten wäre sie Opernsängerin geworden Aufnahme Peter Thomanrvstarn ist es ja kein Problem, als Frau einen jüngeren Mann zu haben." Klatsch gab es genug. Brigitte Mira hat zu ihrem Franki gehalten, bis er 1983 dann doch zu einer Jüngeren zog und kurze Zeit später starb. „Alt bin ich alleine", hat sie immer gesagt, wenn Leute sie früher auf den jüngeren Mann ansprachen. Nun ist sie alleine alt, und die Arbeit hält sie aufrecht, in der Hoffnung: „Ich habe immer gewusst, dass ich noch nicht am Ende bin, deshalb behaupte ich auch mit siebzig, es kommt noch was Internationales. Ich komm noch mal ganz groß raus." Gewiss nicht mehr in Operetten, die hasst sie inzwischen, zumindest als möglichen Programmpunkt in ihrer „One Woman Show", mit der sie nach wie vor tingeln geht.

„Früher ja, da war ich ein blühendes Geschöpf, heute beiß ich mir doch selbst in den Hintern bei dem Gedanken". Vermutlich wäre sie gern ein Typ wie Marlene Dietrich gewesen, hat sich aber früh auf eine mittlere Karriere einrichten müssen. Nicht einmal zur Fernsehmutter der Nation ist sie geworden, wie in den sechziger Jahren Inge Meysel, die dabei sogar noch „ihre Figur halten" konnte. Brigitte Mira ist mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse geehrt worden und hat sich selbst in anspruchslosen Fernsehserien den Respekt erarbeitet, der einer Frontkämpferin in der jahrzehntelangen Schlacht um die Publikumsgunst gebührt. Nun möchte sie wenigstens im Alter auch noch Heldin sein, aber durchaus kontrovers: „Wenn ich so eine langweilige Kuh wäre, dass ich allen gefalle, das wäre doch nicht zum Aushalten, da müssen auch welche dabei sein, die sagen: Entsetzlich, hör mir bloß auf mit der!"


Titel: Tanzdiele auf dem Vulkan Ausgabe: DIE ZEIT 48/1980 (21.11.1980)

URL: http://www.zeit.de/1980/48/tanzdiele-auf-dem-vulkan

Berlin zwischen Buletten-Seligkeit und alternativem Milieu

Jede Meinung über die „sterbende Hauptstadt ist falsch, jedes Vorurteil hat seine Berechtigung

von Barry Graves

Berlin, so sagt man, wird das New York der achtziger Jahre sein", orakelte 1978 die britische Musikzeitschrift Melody Maker, und der amerikanische Guru der alternativen Stadtarchitektur Nikolaus H. Ritter sekundierte im Spiegel: „Berlin hat langfristig gute Chancen, die Dropout-City von Westeuropa und damit auf eine neue Weise politisch aktiv zu werden. "Auf Wolf Tobst Siedler hingegen, der ehemals mit dem kunstwissenschaftlichen Propyläen-Verlag das einzige renommierte Springer-Objekt an der Mauer leitete, wirkt die westliche Halbstadt so „derangiert wie eine Kokotte", die — so ergänzt der halblinke Reiseführer „Berlin — ein Handbuch" zustimmend — „sich noch mal richtig schminkt und aufdonnert, bevor es zu spät ist". Immerhin: Das macht die Stadt lebenswert, der Augenblick ist wichtig, nicht eine imaginäre Zukunft.

„Berlin ist so entsetzlich kaputt, und das törnt uns an", bekennt Knut Schaller von der Punk-Band „PVC", die Live-Darbietungen ihres „Wall City Rock" mit Stacheldraht-Dekorationen, Blockade-Dias und dem Geheul von Bombenalarm-Sirenen zu garnieren pflegt.

„Berlin hat die gleichen Vibrationen wie New York City", schwelgt wiederum Maestro Leonard Bernstein — verwunderlich für jeden, der bisher in New York das schöne, wilde Raubtier unter den Städten sah und Berlin (West) höchstens als asthmatische Hyäne einschätzte.

David Bowie jedenfalls war enttäuscht. Der britische Rockstar landete vor zwei Jahren auf der Suche nach stimulierender „Cabaret"-Dekadenz lediglich in den Armen der transsexuellen Star-Imitatorin Romy Haag. Er verpetzte, nachdem er zwei Langspielplatten lang die kosmische Teutonen-Schwermut der Schöneberger Synthesizer-Band „Tangerine Dream" ausgebeutet hatte, Christopher Isherwood in Andy Warhols Klatsch-Gazette „Interview": „Für ihn war es auch eine der langweiligsten Städte, die er je in seinem Leben aufgesucht hat.

Aber er musste ja irgend etwas schreiben, und da hat er eben ein Berlin gefunden, das es so gut wie nie gegeben hat." Macht nichts — welches Berlin-Bild stimmt schon? Jede Meinung über die „sterbende Hauptstadt" ist falsch, und alle Vorurteile gegenüber der „bröckelnden Subventionsruine“ haben ihre Berechtigung. Die Politiker, die dieser Stadt eine „Über-“Lebensperspektive vorzeichnen sollen, wissen selbst nicht oder wussten nie zu sagen, wie sich Berlin (West) inmitten von Deutschland (Ost) begreifen soll. „Brückenkopf“ sagen die einen unentwegt, „Frontstadt“ meinen die anderen noch immer; ein „Las Vegas an der Spree“ haben manche projektiert, und auf ein „Abschreibungs-Paradies“ haben einige wenige zum Schaden der Stadt viel zu lange spekuliert. Planer, von Bonner Wiedervereinigungs-Illusionen ferngesteuert, verbauten die Stadt zu einer der hässlichsten Metropolen Europas, schufen ein ödes Provisorium, das mit diversen ästhetischen Gewaltstreichen und architektonischen Prunkfesten protzt, eine geistige Kraft und visionäre Begabung der Verantwortlichen hingegen gänzlich vermissen lässt.

Zum Abstieg in Polkwitzer Kleinkariertheit trugen auch die Medien über Jahrzehnte beharrlich bei. Die Springer-Presse führte auf Dauer wahre Possen an politischer Traumtänzerei und provinzieller Selbstverblendung auf, assistiert vom Sender Freies Berlin, dessen Fernsehabteilung den Bundesbürgern ständig suggerierte, Berliner Kultur bestehe nur aus Paul-Lincke-Schnurren und Paulchen-Kuhn-Swing. Schrippen-Humor und Buletten-Seligkeit werden von der offiziellen Berlin-Werbung zwar noch immer nach Westdeutschland verkauft, aber sie sind nicht mehr das einzige Angebot im „Schaufenster West-Berlin“. Während die in wirtschaftlichen Krämpfen zuckende Stadt immer weniger qualifizierte Facharbeiter anzulocken versteht, hat die Saga von der relativ liberalen Oase, der Frei-Stadt zwischen den Welten, der Tanzdiele auf dem Vulkan, jede Menge unruhiger Geister zu einer Massenflucht aus der Provinz animiert. 100 000 alternative Aussteiger werkeln nun schon im Off ihrer weitgehend autarken Kieze.

Ihre Läden, Kneipen, Zeitungen und Theatergruppen vermitteln ein neues Berlin-Bewusstsein, das mit der alten „Ich bin ein Berliner“-Selbstüberschätzung nichts mehr zu tun hat. Mehr noch: Die kulturellen und sozialen Äußerungen dieser Underground-Gegenöffentlichkeit vermag die monopolisierte Presse nicht mehr zu reflektieren. Sie kann sie aber auch nicht gänzlich ignorieren; dazu ist deren Reputation über die Grenzen Berlins hinaus zu sehr angestiegen – ob es sich nun um Kindertheater, Literaten, Musiker von Punk bis Jazz, Subkultur-Filmer oder Modemacher(innen) handelt. Auf die lokalpolitischen Forderungen dieser neuen Schicht reagiert der Senat vor allem hilflos. Übergehen mag er die neuen Ansprüche nicht mehr, wenngleich sie oft genug mit dem Hinweis auf die angeblichen Belange der schweigenden Mehrheit erst mal abgeschmettert werden. Stadtmagazine wie Tip oder Zitty multiplizieren die Kunde vom alternativen Milieu und seinem kulturellen Angebot. Kaum sichtbare Umschichtungen So ist in den letzten Jahren eine Gegenöffentlichkeit entstanden, mit ihren eigenen Themenschwerpunkten, Leitfiguren und Treffpunkten. Diese „Szene“ hat kaum noch Berührungspunkte mit dem allgemein propagierten „Berliner Leben“ der Bevölkerungsmehrheit, stellt aber einen enormen soziokulturellen Gestaltungsfaktor dar, der trendbildend wirkt und auf lange Sicht auch die konventionell denkende und handelnde „Oberwelt“ – das „Pflaster“ über dem „Strand“ – verändern kann.

Ob diese – aus „Tunix-Mentalität“ und „Langer-Marsch“-Theorie entstandene Attitüde ein für Berlins spezielle Lage brauchbares Zukunftskonzept darstellt, wird gerade aus dem linken Lager bezweifelt. So monieren nicht wenige Überlebende der seligen Apo-Zeiten die „larmoyante Innerlichkeit“ der meisten Alternativen und entdecken in deren Variante der Abkehr vom bürgerlichen Konsumleben bisweilen gefährliche Ansätze eines „kleinbürgerlichen Romantizismus“ oder einer romantischen Naturbeflissenheit – gefährlicher Nährboden für politische Träumereien. All diese Umschichtungen teilen sich natürlich dem Normaltouristen kaum mit, der im „Interconti“ absteigt, bei „Hardtke“ oder gar „MaÎtre“ tafelt, seine kulturellen Erlebnischancen lediglich am Spielplan der Staatlichen Bühnen und Kudamm-Kinos orientiert und in einem Besuch des Transvestiten-Altenklubs „Chez nous“ schon den Höhepunkt an verrücktem Nightlife sieht.

Wegweiser zu Seitenpfaden Wer die Behauptung vieler Insider und Trendbeobachter nachprüfen möchte, Berlin sei „die“ Stadt überhaupt nach New York, dem seien als Einstiegslektüre zwei Berlinbücher empfohlen, die die Trampelpfade der herkömmlichen Berlinbeschreibung umgehen und eine weitgehend unsichtbare City der kontrastierenden Konzepte und unkonventionellen Denk- und Lebensweisen beschreiben: „Anders reisen – Berlin“, herausgegeben vom Kollektiv der Stadtzeitung Zitty (Rowohlt Taschenbuch 7503), und „Berlin – ein Handbuch“, erschienen im Verlag Stefan Loose, Koertestraße 22, 1000 Berlin 61.

Da wird dann jeder die für seinen Geschmack passende Freakpinte, Theatergruppe, Speisewirtschaft, Beratungsstelle oder Herberge finden. Erstaunlich ist, wenn man sich einmal angewöhnt hat, auf diesen Seitenpfaden zu wandeln, dass da durchaus nicht allein Plüsch- und Plunder-Mentalität oder gar Gammel- und Schmuddelästhetik dominieren. Wenn man oft zwischen Berlin und der als Trendsetter gepriesenen Metropole New York hin- und herpendelt, stellt man verblüfft fest, wie ähnlich sich die beiden Städte in ihrem Kontrast zwischen „Oberwelt“ und Underground sind, dass tatsächlich eine Stadt wohl ziemlich kaputt, reaktionär und möglicherweise korrupt sein muß, um – im Widerspruch dazu – neue Talente zur Kreativität zu stimulieren. Andererseits beweist sich am Beispiel Berlin: Was eine Stadt einmal an Großstadt-Mentalität und kultureller Aufnahmebereitschaft entwickelt hat, das geht auch dann nicht verloren, wenn sie von innen und außen so gebeutelt wird wie die niedergerungene Ex-Hauptstadt.


Titel: New York: Kampf gegen das Mittelmaß Ausgabe: DIE ZEIT 38/1980

URL: http://www.zeit.de/1980/38/new-york-kampf-gegen-das-mittelmass

Ein Ehepaar kommt auf der Third Avenue an einem Geschäft vorbei, das sich auf „Brautkleider für Lesbierinnen" spezialisiert hat. „Da siehste mal wieder", sagt die Frau zu ihrem Mann, „Sachen gibt's, die gibt's entweder in New York oder nirgendwo". Diese Cartoon-Unterschrift aus dem New Yorker summiert Verlockung und Bedrängnis des urbanen Lebens auf der Insel Manhattan: Jeder muß/darf verrückt sein um jeden Preis, alle können/müssen ausgefallene Anliegen vortragen — Mittelmaß und Bescheidenheit sind im Überlebenskampf der Megalopolis wohl eher Suizidiwaffen. Vier Stadtmagazine kanalisieren die schier unermessliche- Fülle an Informationen, die Schwemme vielschichtiger Alltagsprobleme, das Angebot an Dienstleistungen und Entertainment sowie die Nachfrage nach kompetenten und literarisch originellen Ratgebern für alle möglichen und unmöglichen Lebenslagen. New York Magazine, 1968 gegründet, in etwas mehr als einer halben Million Auflage jeden Montag für 1,25 Dollar an den Zeitungsständen, ist das Flaggschiff aller Stadtillustrierten: informativ, witzig, clever recherchierend, mutig im Urteil und zu jedem Klatsch bereit, der seine Durchschnittsleser — das lebenslustige Ehepaar Mitte dreißig aus der gehobenen Mittelschicht — interessieren mag. Neben brillanten (stadt-)politischen Analysen und präzisen Porträts verdienter oder zweifelhafter Politiker findet sich Lebenshilfe („die zwölf besten öffentlichen Schulen, auf die man seine Kinder noch schicken kann") oder Konsumberatung („die besten Zwei-Personen-Dinner für unter 50 Dollar") im Hitparadenformat.

Seit der australische Zeitungszar Rupert Murdoch die Klatsch- und Kriminal-Gazette New York Post aufkaufte und nach dem schlimmen Vorbild seiner britischen Boulevardblätter ummodelte, hat er auch noch New York und die Village Voice geschluckt. Nur bei der Voice, einer Art ZEIT für salonlinke Disko-Fans, ist Murdochs Einfluss kaum spürbar geworden. Die ständigen redaktionellen Querelen, die dem Pressemogul folgten, veränderten den liberalen Bekennerjournalismus des 1955 gegründeten 75-Cent- Wochenblattes kaum. Nach wie vor attackiert die Voice, als Sprachrohr vornehmlich der gutsituierten Greenwich Village-Intellektuellen, Abstriche an der Lebensqualität der Stadt durch Business-Spekulanten und opportunistische Stadtparlamentarier, polemisiert gegen politischen Kleinmut in Bürgerrechtsfragen und fördert einen alternativen Daseinsstil auf ästhetisch befriedigender Ebene. Ganz auf Stil und Society-Allüren gehen die 1973 in Konkurrenz zur Voice etablierten Soho News, die für 60 Cents pro Woche dem Ausflippleben in Manhattan Design- Vorschläge anbieten. Photographen, Maler, Modezeichner und überzüchtete Lebenskünstler finden hier ihr Informations und Diskussionsforum, Freaks mit Bildungsdünkel und Dekadenzler mit Rudimenten von sozialer Verantwortung werden von der Postille aus dem Loft-Areal „South of Hauston Street" angesprochen.

New York Magazine konnte sich mit Murdochs Finanzen inzwischen den gutbürgerlichen Veranstaltungskalender Cue einverleiben, der seit 1935 alle zwei Wochen ohne sonderliches intellektuelles Engagement auflistete, wo man in New York wann und zu welchen Tarifen essen, tanzen, Filme und Theater sehen, Ausstellungen anschauen oder sich trendgerecht ¦ bilden kann. Die Allianz mit Cue hat bei New York Magazine den Trend zur Programm-Illustrierten verstärkt, mit immer geringer werdendem riskantem Einsatz dort, wo den Mittelstands-New Yorker der Gucci-Schuh drückt. Fern jeder verlegerischen Banauserei und auf Distanz zur Erosion westlicher Lebensart schreiben die Redakteure und hochkarätigen Gastautoren des 1925 erstmalig erschienenen New Yorker vor sich hin. Die penetrant schöngeistige Stadtzeitschrift (Auflage: 500 000) verzichtet auf reißerisches Trend-Layout und animierende Reports von der Schickeria-Front. Der Neu. Yorker bietet seinesgleichen die Creme der News aus dem Kulturleben und tiefgründige Endlos-Reiseberichte aus verwandten oder geistig anregenden Fremdkulturen.

Richtig berühmt geworden ist das feudale Bildungsblatt aber erst durch seine humoristischen Cartoon,- (von Steinberg, Addams, Koren, Stevenson), die die Attitüde des New Yorker-Lesers illustrieren: immer Nonchalance bewahren, auch dem Sittenverfall und der politischen Unvernunft mit Etikette begegnen. Für die Armen, die Radikalen, die sozialen Märtyrer oder die antikommerziell Engagierten schreibt der New Yorker genauso wenig wie Soho News, Voice oder New Yorkcue: Ohne Bloomingdale's Kreditkarte ist der New Yorker eben kein Mensch oder umgekehrt.


Titel: Berlin: für rechtslebende Linksdenker Ausgabe: DIE ZEIT 36/1980

URL: http://www.zeit.de/1980/36/berlin-fuer-rechtslebende-linksdenker

Berliner Springer-Presse (West) ist ja, wie tagtäglich wir aus .erfahren, eine „Weltstadt". Mit dieser Existenzlüge, die über das schichten möchten beide wohl bewusst nicht sein, tip und Zitty (vormals Hobo) wurden von Szene-Protestlern und linken Studenten- hinwegtäuschen soll, was längst gegründet. Das erklärt ihre nicht mehr ist, leben die meisten eingeengte Ansprache und ihr Berliner auf beinahe tragikomische publizistisches Credo, das sie auch Weise in schönster Selbstgefälligkeit üppig gestiegener Auflage und keit. Von Presse und Parteien lassen sie sich in einen Metropolenwahr hinein schaukeln: Alle Welt „scheut auf diese Stadt", und jedermann möchte „ein Berliner" sein. Gerade weil das kollektive Bewusstsein in Berlin von Unaufrichtigkeit und Selbstverblendung durchsetzt ist, sollten wenigstens die unabhängigen Stadt-Magazine korrigierend eingreifen, wie es beispielsweise New Yorks entsprechende Blatter gegenüber der unsäglichen Boulevardpresse Manhattans tun. Doch die beiden Stadtillustrierten tip (Auflage um die 95 000, 2,50 Mark) und Zitty (etwa 40 000 gedruckte Exemplare, 2 Mark) haben anderes im Sinn (die Broschüren Berlin-Programm und Wohin in Berlin bestehen fast nur aus Anzeigen und sind journalistisch indiskutabel). Zitty gibt sich als Kulturblatt der Anti-Etablierten, Zitty geriert sich als Forum der kämpferischen Alternativen.

Eine Informations- und Diskussionsplattform für Berliner aller Alters- und Bevölkerungsfettem Anzeigenaufkommen nicht preisgeben wollen. Senatspolitik wird deshalb kaum diskutiert (es sei denn, sie spielt in „grüne" Belange hinein), konventionelle Unterhaltungskunst oder Sport finden wenig Beachtung, Mode, (Innen-)Architektur sowie „human interest"-Stories oder gar Restaurantrezensionen oder Einkaufsratschläge sind als „Konsumscheiß" oder „bürgerliche Ästhetisiererei" verpönt. Zitty kann sich da noch unbefangener geben, weil dessen alternative Kundschaft in ihrem radikal-politischen Selbstverständnis ganz sicher zu ruhen scheint und sich von kleinen bourgeoisen Extravaganzen nicht verunsichern lässt. Die Leser von tip hingegen (die Anzeigen sind da ein Indikator) gehören wohl überwiegend zu jener Generation der Mittdreißiger, die heute längst „rechts" lebt, aber gern noch als „linksdenkend" eingestuft werden möchte. Dieser Zwiespalt, vom Herausgeber durchaus zugegeben, lässt tip in seiner Ansprache bisweilen gequält progressiv erscheinen. Beiden Blättern gemeinsam ist der relativ niedere journalistische Standard der Artikel, wenngleich tip im letzten Jahr in Sachen Schreibqualität einen beachtlichen Aufschwung genommen hat.

Doch nach wie vor sind tip- oder Zitty- Artikel publizistisch so unaufregend, dass sie bundesweit als kaum zitabel gelten mögen. Das mag den einheimischen Leser nicht stören; Up, so geht der Branchenschnack, wird ohnehin überwiegend wegen der mehrseitigen Kontaktrubrik „Lonely Hearts" gekauft. Immerhin wird der alternative Berliner, selbstgefällig oder nicht, bei der Lektüre beider Zeitschriften bestens unterrichtet, was die Stadt Tag für Tag an Entertainment und Information bietet: Die Programmteile von Zitty und (vor allem) tip sind an Ausführlichkeit kaum noch zu übertreffen.


Titel: Stevie Wonder auf Tournee durch Europa - Von Nashville bis Nassau Ausgabe: © DIE ZEIT 31/1984 (27.07.1984)

URL: http://www.zeit.de/1984/31/von-nashville-bis-nassau

Musik muß farbenblind sein“, sagt Stevie Wonder. Darum haßt er es, in eine schokoladenbraune Rhythm-and-Blues-Schachtel gesteckt zu werden: „Da kriege ich klaustrophobische Zustände.“ Er hat in seinem 25 Jahre langen Künstlerleben (dabei ist er gerade mal 34) unentwegt Befreiungsschläge gegen soziale Zwänge und musikalische Konventionen geführt. Steveland Judkins Hardaway ist der vollkommene schwarze Star aus dem Getto von Detroit, ein Erfolgsmodell für ethnische Wunschvorstellungen: Aufstieg ohne Verschleierung der Herkunft und ohne Identitäts-Verlust; black power nicht als wirkungslose Potenz-Geste, sondern als Ansporn zum Aufstieg: hart bleiben, Stolz bewahren, vorwärtskommen!

Im Gegensatz zu Diana Ross und verstorbenen Marvin Gaye hat Stevie Wonder seine musikalische Sensibilität seit den Gründerjahren der Motown Records nicht abgeschliffen und seine Kreativität kaum in stilistischen Richtungskämpfen verzettelt. Dabei reicht die Skala seiner Komponisten- und Arrangier-Einfälle von Nashville bis Nassau, vom weißen Country-Rock bis zum karibischen Mulatto-Beat. Die Kunstfertigkeit des blinden Allround-Musikers spielt die disparaten Genre-Zitate geschickt gegeneinander aus, probiert verblüffende Synthesen, wagt effektvolle Kontraste. Da vereinigen sich Funk-Fanfaren, afrikanische Stammesrufe, Hippie-Hymnen, Gospel-Seligkeit und harsche Protest-Pamphlete zu einem anregenden Sound-Gebräu, das dem Bauch wohltut, das Gehirnaber nicht vernebelt.

Stevie Wonders Musik ist blues-erdig und dennoch voller Phantasie, sie ist trendkundig für den Neon-Asphalt-Dschungel gemacht, ohne die Wurzeln der ländlichen Blues-Tradition zu vertuschen. „Ich werde so geschwind sein, wie das Leben es verlangt, aber nie so hastig, daß ich euch nicht mein Bestes geben könnte“, hat er auf dem Cover seines vorletzten Albums versprochen und sich zur Pein seiner Fans daran gehalten: Stevie-Wonder-Alben sind so rar wie hierzulande gute Sommer. Die bislang letzte Studio-LP, „Hotter than July“, wurde im Winter 1980 veröffentliche mung auf die nun endlich erscheinende neue Platte, „Circle in the Square“ (Quadratur des Kreises), geht derMusiker auf große Europa-Tournee. Der Beginn der deutschen Konzert-Serie war in Berlin.

Die Motown-Magier haben für ihren Star einen „Wonder-Würfel“ auf der Bühne errichtet, eine perspektivisch verzerrte quadratische Plattform, die nach hinten ansteigt und in einer draufgesetzten runden Riesenscheibe fünf Vertiefungen erkennen läßt, als sei im Spiel um die Gunst des Publikums die Fünf geworfen worden. Aus diesen Vertiefungen werde hydraulisch die Musiker und Sänger der Begleitband „Wonderlove“ gehoben, während Bruder Calvin Stevie zum Piano auf einem Podium am linken Bühnenrand geleitet. Dieses Podium „schwebt“ während des Auftritts wie auf unsichtbaren Magnetkissen zur Bühnenmitte und trifft sich dort mit einem Podest voller Synthesizer-Apparaturen, das von rechts herangleitet: Stevie kann mühelos von Akustik auf Elektronik „umsteigen“. Dieses technische Brimborium ist effektvoll, nie irritierend. Die light-show unterstützt die unentwegte Hitparade sehr einfallsreich und präzise.

Im Mai hat Stevie Wonder bei „Abschiedskonzerten“ in seiner Heimatststadt Detroit viele Songs aus dem Repertoire der frühen Jahre („My cherie amour“, „Fingertips“) zum letztenmal gesungen. Den europäischen Fans hingegen bietet er noch einmal das komplette Wonder-Repertoire an. Bei „Fingertips“ hechelt und piepst er sogar mit Hilfe eines „Harmonizers“ wie damals, als er mit zwölf Jahren für erste Konzert-Ekstasen sorgte. Er präsentiert den vorgeblich „neuen Stevie mit-einer alten Country-Schnulze, gibt sich scheinbar verletzt, tausend Fans auf seine Frage „Mögt ihr das?“ im Chor „no“ schreien und fällt dann mit bester Spendierlaune über seine grandiose Song-Kollektion her, die die „Herren“ und „Fräuleins“ von der Band (er versucht sich mit Charme an der deutschen Sprache) kongenial wiedergeben: Die Arrangements sind auf den optimalen (Ausssage-) Punkt gebracht, die Klangstaffelung der Instrumentengruppen ist dimensionsreich, die Tonqualität „kommt astrein ’rüber“. Und natürlich singt er am Schluß „Happy Birthday“, die Ode an sein Idol Martin Luther King, dessen Geburtstag vom 15. Januar nächsten Jahres an offizieller amerikanischer Nationalfeiertag ist – ein Ziel, für das sich Stevie Wonder sehr engagiert hat.


Titel: „Stop Making Sense" — der Erfolgsfilm der neuen Popmusik Ausgabe: © DIE ZEIT 48/1984 (23.11.1984)

URL: http://www.zeit.de/1984/48/apokalypse-in-pop

Die Kinoversion eines Konzerts der amerikanischen „Talking Heads" läuft jetzt in Deutschland / Von Barry Graves Das Pantages Theater auf dem Hollywood Boulevard - Showplatz der Oscar-Verleihung 1949 bis 1959 - ist eine Augenweide art-deco-süchtiger Architekturkunst, doch wen interessieren Obelisken, Säulen, Plafonds, Stuck- Ornamente und Gold-Intarsien, wenn auf der Bühne die beste neuere Rockband unserer Tage musiziert? Jeweils 2708 kalifornische Jugendliche klatschten, tanzten, schrien, heulten, pfiffen und kreischten an vier Dezemberabenden 1983 beim Konzert der „Talking Heads", doch keine der sechs Kameras von Regisseur Jonathan Demme, der die Show filmte, registrierte den Trubel im Parkett und auf den Rängen. „Unsere Musik", hatte David Byrne von den „Talking Heads" einmal erklärt, „inspiriert ihrer Natur gemäß zu einer mystischen Kommunion zwischen Musikern und Publikum". Davon sollte das Filmtheaterpublikum in aller Welt nichts mitbekommen, als die vier kalifornischen Konzerte für einen Kinofilm aufgezeichnet wurden. Alle „human interest"-Elemente, die ansonsten Konzertfilme bis zur Peinlichkeit anreichern, waren verpönt. „Wenn ich da noch Interviews und neckische Bildchen dazwischen geschossen hätte, wäre die Energie des fortlaufenden Konzertes abgesackt", erklärte Regisseur Demme.

Der Mann hat den Mut, sich asketisch gegen die Bilderfluten aus den Videoclip-Kanälen zu stemmen, die mit immer neuen Farbräuschen und perfekt ausgetüftelten Schnitt-Gags einer multimedial überreizten Generation die- Deja-vu-Tristesse fortspülen wollen. Bald nachdem der „Talking Heads"-Film mit dem Titel „Stop Making Sense" am 24. April in San Francisco Premiere hatte, wurde er in den USA zu dem ambitionierten Pop-Musikfilm- Ereignis der letzten Jahre - eine Kino-Rockshow mit intellektuellem Touch. Die intelligente Klangauffächerung und die elektronisch aufgebesserte Brillanz von Stimmen und Instrumenten schlägt über den digitalen Dolby- Soundtrack voll an die Ohren; doch visuell scheint zunächst überhaupt nichts los zu sein. Ein Paar weiße Schuhe tappen über den Bretterboden einer unaufgeräumten Werkstattbühne.

Gitarrist David Byrne schlendert zum Mikrophon und stellt ein kleines Kassettenradio neben sich hin. Klick, die Kassette gibt einen Beat, wie er von Billigpreis-Rhythmus-Maschinen bekannt ist. Und Byrne singt dazu das Lied vom „Psycho-Killer", den Folk-Song vom verlorenen Sohn im globalen Dorf unserer zerrütteten zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Hintergrund hantieren Bühnenarbeiter an Dekorteilen, Leitern und Podesten, die Kamera lässt uns Zeit, den Sänger intensiv anzuschauen: penibel gestriegelte kurze Haare, knochiges Gesicht, blaugrüner Anzug von der Stange - die Eleganz eines William S. Burroughs, der sich als Bandleader in einem Vorstadt-Tingelclub versucht, die unheilvolle Abgeklärtheit eines Anthony Perkins, kurz bevor er im „Psycho"-Motel einmal wieder ein Zimmer freimacht. Ein Baßverstärker wird auf die Bühne gerollt. Tina Weymouth stöpselt sich ein und singt mit David Byrne das Lied vom „Heaven", dem „Ort, wo nie etwas geschieht - schwer vorstellbar, daß das reine Nichts so aufregend sein kann, so viel Spaß vermitteln mag". Das denkt der von Videoclips verseuchte Zuschauer auch, während die Kameras seelenruhig verfolgen, wie ein Musiker nach dem anderen seine Position auf der Bühne bezieht: Drummer Chris Frantz, die Keyboardspieler Jerry Harrison und Bernie Worrell, Gitarrist Alex Weir, Perkussionist Steve Scales und die Sängerinnen Lynn Mabry und Ednah Holt.

Die Musik schwillt an, die Instrumente legen mehr und mehr komplexe polyrhythmische Spuren, der „weiße" Folksong verfärbt sich zu afrikanischer Techno-Disco, zu hysterischem Soul- Rock. Das Auftritts-Ritual der „Talking Heads" im Pantages Theater entspricht der Geschichte der Band, seit sie 1977 in den Punk-Schuppen der Lower East Side von Manhattan mit apokalyptischen Zivilisations-Satiren als Quartett debütierte. Songschreiber Byrne montierte zunächst Klischeebegriffe der Konsum-Kultur zu aberwitzigen Collagen, verfremdete gängige Alltags-Situationen zu unheilvollen Szenarien und baute Worthülsen einer sinnentleerten Kommunikations-Manier zu absurd-abstrakten Formeln zusammen, die er wie ein Glaubensbekenntnis herunterbetete - als reiner Tor, der wie von Mikrochips gesteuert durch die Hochhauswüsten einer überdrehten Zivilisation irrt.

Die „Talking Heads" gaben sich als emotionsarme Balladensänger der Überflußgesellschaft, die sich vor der Auflösung aller Werte krank ängstigt und heillos in die Neurose flüchtet. Der Gruppenname war dementsprechend clever gewählt, denn „Talking Heads" sind im amerikanischen Medien- Jargon die TV-Brustbilder jener Nachrichtenshowmaster, die selbst bei Berichten über Hungerkatastrophen, Terroranschläge und Atomkriegspläne ihr zuschauergewinnendes Lächeln nicht verlieren. Auf späteren Platten schüttelte das Ensemble unter Anleitung des englischen Soundtüftlers Brian Eno und unter Beteiligung schwarzer Musiker ihre weißen Paranoia-Schuldgefühle ab und fand „bei der Beschäftigung mit afrikanischen Rhythmen und Sensibilitäten" (Byrne) zu trancehafter Dritte- Welt-Ekstase.

Mit dieser Gratwanderung zwischen den Kulturen kamen die Musiker der essentiellen Situation des Rock 'n' Rollers nahe - Weiße, die mit Verve und Integrität versuchten, so „cool" und „funk" wie schwarze Musiker zu sein. Diese Kommunikation über mögliche ethnische Barrieren hinweg vermittelt Jonathan Demmes Film „Stop Making Sense" in ruhigen Bildern, mit genial simplen Beleuchtungseffekten des Kameramanns Jordan Cronenweth („Blade Runner"). Ein paar weiße Tiefstrahler, eine effektvoll eingesetzte Handlampe - bisweilen gibt sich die Lichtdramaturgie so täuschend simpel wie die Beleuchtung im Partykeiler, und dennoch bekommt jeder Song seine angemessene visuelle Dimension. Gelegentlich blendet im Bühnenhintergrund ein Dia-Tryptichon mit seltsamen Wort-Chiffren oder rätselhaften Bildern auf, Teil der „Talking Heads"-Song-Traumwelt: „Machtvolle Bilder, die einen emotionalen Eindruck hinterlassen, ohne dass man weiß, was es bedeuten soll" (David Byrne). Zum Schluss des 86-Minuten-Films, bei AI Greens Spiritual „Take me to the river", reißt David Byrne mit einem Schrei den Bann der Kameras auf.

Sie schwenken ins enthusiasmierte Publikum, fahren weit zurück und zeigen eine virtuose Band in der Totale, die Orient und Okzident wie in akademischer Kunstübung verbindet und dabei dennoch lustvoll-lässig wirkt. Mit seiner Kassenbrille und seinem bleichen Bücherwurm-Gesicht gibt Burne vorsätzlich das Bild des weißen Spießers ab, der überhaupt kein „Soul"-Gefühl haben kann, der unter seiner Verklemmtheit innerlich vertrocknet ist. Dieses Jammerbild, provozierend in einen afro-amerikanischen Soul-Rock-Kontext gesetzt, mag eine Art Katharsis bedeuten für alle Rythm & Rock-Fans, die zwar nicht „black" sind, sich aber dennoch „beautiful" fühlen möchten. „Stop Making Sense" zieht den Zuschauer auf die Bühne hinauf, lässt ihn eintauchen in eine Klangwelt jenseits von Sinngebung, dort, wo eher die Sinnlichkeit dominiert. Weil die Bilder wie nie zuvor die Musik verstärken und nicht mit ihr konkurrieren wollen, ist Jonathan Demme mit seinem „Talking-Heads"-Film ein Meisterwerk gelungen.


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